Nach mir die Sintflut

(Artikel)
Rian Voß, 18. Oktober 2011

Nach mir die Sintflut

El Shaddai: Ascension of the Metatron

Bizarr, abstrakt, skurril - das sind Adjektive, die ich in meinen Artikeln gerne benutze, aber immer noch viel zu selten. Mit diesem Review über Ignition Tokyos, Ignition Entertainments und Konamis Liebeskind El Shaddai: Ascension of the Metatron sollte ich aber meine gewünschte Monats-Quote bei weitem übertreffen. In diesem grafisch ansehnlichen Beat 'em Up prügelt man sich als Gotteskrieger Enoch durch verdrehte Landschaften, um ein paar gefallene Engel einzusacken und wieder mit ins oberste Stockwerk zu schleppen. Versprochen wurde damit ein Spiel, welches kein eigenes Genre gründet, aber trotzdem alles irgendwie anders und natürlich auch Spaß macht.

Normalerweise geben Screenshots ein verfälschtes Bild von den eigentlichen Spielerfahrungen wider. Bei El Shaddai ist das nicht so.

Was ein guter Action-Beater immer benötigt: eine gute Steuerung. Ich habe mich bei meinem Ninja Blade-Artikel bereits zu Tode referiert, dass ein Klopper noch so eine tolle Grafik, Story oder sonst was haben kann - wenn man ständig in irgendwelche Abgründe fällt, weil unser Hauptcharakter schlecht auf den Input reagiert, dann will man einfach nur den Controller in die Ecke schmeißen. Hier haben wir es glücklicherweise mit einem Positivbeispiel der Branche zu tun, insofern dass Enoch sich, abgesehen von ein paar ungünstigen Kameraeinstellungen bei Sprungpassagen, wie ein Traumjunge lenkt und genau das tut, was man möchte. Man könnte, wenn man böse ist, aber auch sagen, dass das keine große Leistung ist, denn viel Auswahl hat man in der Hinsicht ja nicht. Schließlich kommt das Button-Set von El Shaddai mit ganzen vier Tasten aus. Was vollkommen reicht.
Normalerweise gehen Spiele der Marke "Schlag abgedrehte Polygongegner zu Brei" eher in die Richtung "mehr, mehr, länger, komplexer": Mehr Waffen, mehr Tasten mit Sonderfunktionen belegen, längere Kombos, komplexere Eingabemuster. Jeder Knopf steht für einen bestimmten Angriff, Bayonetta kloppt zum Beispiel hier mit den Händen, auf der anderen Taste mit den Füßen, Kratos aus God of War hat schwache Angriffe, starke und magische. Und wie man sich mit Dante aus in Devil May Cry die Finger bricht will ich gar nicht wissen. El Shaddai verfolgt ein ganz anderes Grundkonzept: Es gibt nur eine Angriffstaste. Das klingt erst einmal langweilig und eintönig, aber trotz des geringen Spektrums lässt sich eine ganze Menge damit anstellen, denn man kann sein Buttongemashe, also die Standardkombo, etwa dadurch aufwerten, dass man eine kurze Unterbrechung in die Attacke einbaut, um somit effektiv blockende Gegner aus der Verteidigung zu locken. Oder man kann durch Halten eines Knopfes Attacken aufladen. Oder in Kombination mit der rechten Schultertaste einen waffenspezifischen Spezialangriff ausführen. Das führt dazu, dass die vielen Variationsmöglichkeiten der "Lieblingskombo" eines beliebigen anderen Beaters (man kennt es: die Lieblings-Schadenskombo, die Lieblings-Uppercut-Combo, die Lieblings-Juggle-Kombo...) auf genau ein effektives Muster runtergekürzt wird und man sich auch ohne das Merken spezieller Bewegungsabläufe nicht um ein tiefgründiges Kampfsystem behumst fühlt. Und das Ganze funktioniert vollkommen ohne Upgrades oder Erfahrungspunkte!

Die drei Waffen von El Shaddai, zuzüglich dem unbewaffneten Kampf (der gemieden werden sollte), verdienen dabei noch mal ganz besondere Erwähnung. Diese Waffen wurden von den Dienern der gefallenen Engel von Gott entwendet, darum ist das jetzt für Enoch auch nicht verwerflich, sie im Kampf zurückzustehlen. Die drei Prügel heißen Arch, eine leicht zu benutzende Allzweckklinge, Gale, eine schnellfeuernde Projektilwaffe, und Veil, ein Schild, der sich auch als Paar Starkschmerz-verursachender Handschuhe verwenden lässt. Der Clou ist, dass diese Waffen die Spielweise vollkommen unterschiedlich gestalten (so gibt einem der Arch eine Gleit-Fähigkeit, die Sprungpassagen enorm erleichtert, der Gale gibt uns Dashes und Luft-Dashes und mit dem Veil lassen sich so gut wie alle Attacken blocken), allerdings bleibt die Steuerung immer exakt dieselbe, so dass in der Zeit zwischen dem Betäuben eines Gegners und dem Entwenden seiner Waffe kein Gedanke darauf verschwendet wird, sich erst mal wieder daran zu erinnern wie die Moves nun eigentlich lauteten. Dieser leichte Übergang zwischen den Werkzeugen ist auch nötig und mit dem Kämpfen drumherum fest verwurzelt, denn jede Waffe ist einer anderen nach gutem alten Stein-Schere-Papier-Prinzip überlegen: Arch-Träger kriegen vom Dauerfeuer des Gales pausenlos auf die Fresse, während man sich mit dem schildartigen Veil mühelos dem Fernkampfstinker nähern und ihm die Visage polieren kann.


Jedoch haben alle von Gottes Kampfgeräten auch eine gemeinsame Schwäche: sie korrumpieren. Und korrumpierte Waffen erzeugen an korrumpierten Feinden höchstens blaue Flecke. Enoch als heiliger Mann hat - phew! - die Eigenschaft, die Waffen wieder zu reinigen, aber in der Zeit ist man natürlich beschäftigt, unachtsam und bekommt leicht auf's Maul. Kriegt Enoch zu viel ab, dann platzt ihm zwar nicht das Hemd, dafür aber in prächtiger Ghost-'n'-Goblins-Manier die Rüstung, und das so lange, bis er nur noch in Jeans und Flip-Flops dasteht. Kein Scherz. Jeans und Flip-Flops. Schlimmer ist es noch, wenn man mal mit einem Schlag so viel abbekommt, dass es einem die Waffe zerfetzt, dann muss man sich schleunigst eine neue klauen gehen.

Aber überhaupt kommt El Shaddai wunderbar ohne Benutzeroberfläche aus. Die Energie von Enoch und seinen Feinden lässt sich an der verbleibenden Rüstung am Körper ablesen, Enochs Knüppel färben sich langsam rot-grau, wenn sie mal wieder einer Reinigung bedürfen, und mehr Statistiken gibt es nicht, die sich in Platz-wegnehmenden Leisten auf dem Bildschirm darstellen lassen könnten. Man kann also die Eindrücke der Grafik in ihrer vollen Pracht genießen.

Gerade hier merkt man nämlich die Einflüsse von Designer und Chef des El-Shaddai-Teams Takeyasu Sawaki, der auch an Devil May Cry und Okami gearbeitet hat, sehr stark. Ich hatte, ehrlich gesagt, in den ersten Spielmomenten beträchtlich Angst, dass der Stil des Spiels die ganze Zeit bei irgendwelchen abwegigen, texturarmen Plattformen und einigen engen Pässen voller kunterbunter Hintergründe, die an das Erbrochene von Einhörnern erinnern, bleiben würde. Einerseits hat sich meine Befürchtung bestätigt, andererseits ändert sich Farbe und Konsistenz der metaphorischen Fabelwesen-Kotze oft genug, dass einem davon nicht selbst schlecht wird - mir zumindest nicht. Ich kann mir vorstellen, dass die Augenkrebs-Toleranzgrenze da bei anderen Leuten niedriger liegt.
Aber mal ein Beispiel: Storymäßig ist El Shaddai so aufgebaut, dass man sich einen von den Engeln gebauten Turm in einer dimensionalen Seitentasche unserer Welt hochkämpfen muss, wobei jedes Stockwerk einem dieser sogenannten Grigori gehört. Die Etage des Wächters Ezekiel erinnert mich sehr stark an Sawakis ureigenes Okami mit vielen verwischten Linien und einer allgemein eher fröhlichen, natürlichen Atmosphäre. Im krassen Gegensatz dazu steht der Level, in dem den Menschen eine fortgeschrittene Zivilisation gereicht wurde und alles irgendwie so aussieht wie Tokyo bei Nacht: dunkel mit vielen Lichtern. Dem gegenüber steht wieder Sariels Welt, welche sich erst mal eher wie ein 2D-Jump'n'Run spielt und außerdem von der Farbgebung und der Linienführung eindeutig von Mario abgekupfert wurde. Das alles ist merkwürdig und befremdlich, gleichzeitig aber so schön und exotisch wie eine gute Großstadtbesichtung auf dem asiatischen Kontinent.


In derselben Weise wurde sich viel Mühe gemacht, den Spieler immer wieder mit unterschiedlichen Gameplayfragmenten zu konfrontieren: hier ein bisschen Prügeln, dann ein paar Sprungpassagen und dann wieder etwas Besonderes. Neben dem allgemeinen Durchwandern der Engelswelten erwarten einen etwa eine Motorradfahrt, mehrere Abstecher in die Unterwelt und noch ein paar andersgeartete, abgedrehte Momente. Dabei steht trotz allem das Kloppen und Springen immer noch sehr im Vordergrund, was bei ausgedehnten Sitzungen wegen der sich über das ganze Spiel hinweg nicht ändernden Mechaniken doch zu ein wenig Ermüdung führen kann. Vielleicht hätten ein oder zwei zusätzliche, normale Gegner noch ein bisschen mehr Pep in den Ablauf bringen können.

Was aber keinesfalls zum Gähnen anregt, ist die Geschichte des Spiels und die Größenordnung an Mindfuck - mir mangelt es an einem deutschen Wort, welches dieses Gefühl vollends repräsentiert - die mit dem Spieler betrieben wird. So simpel der Plot um die sieben Engel und Enochs Auftrag klingt, so kompliziert entwickelt er sich: erst einmal sind die gefallenen Engel nicht wirklich von Grund auf böse. Die Grigori haben einfach nur eine Vision von einer besseren Welt und wollen sie umsetzen, weswegen sie auf Gottes Erde eine weitere gebaut haben, um die Entwicklung der Menschen nach ihren Vorstellungen zu leiten und gleichzeitig den Menschen das zu geben, was sie wollen - Liebe, Technik, Frieden, was auch immer. Das klingt nicht schlecht, aber dem Ältestenrat des Himmels stinkt's, dass die Grigori so den Menschen ihre Besonderheit, nämlich ihren freien Willen, wegnehmen. Und außerdem trotzt man Gott nicht. Das macht man einfach nicht. Ihr Plan also: Flut und gut. Jedoch gefällt Enoch, einem lebenden Menschen im Himmelreich, diese Operation nicht und schlägt vor, die Gefallenen eigenhändig dingfest zu machen.

So weit so fort. Nur muss Enoch seine Widersacher erst mal ausfindig machen. Das allein dauert schon mal an die 300 Jahre und wird im absolut gelungenen, gezeichneten Intro zwischen Kapitel 1 (The Journey Begins) und Kapitel 2 (Journey's End) überbrückt. Die Zeitspanne allein reicht schon gut dafür aus, dass Enoch sich hin und wieder mal Gedanken über seine Mission macht, die vorgesehen Evolution und seine eigenen Motive hinterfragt. Als wenn das nicht genug wäre, passiert das hier auch genau so im Spiel.

Die Handlung von El Shaddai: Ascension of the Metatron orientiert sich übrigens stark am biblischen Buch von Enoch, welches je nach Religion entweder im christlichen Kanon steht oder nicht. Es ist wie die Geschichte, ob She-Hulk nun wirklich einen One-Night-Stand mit dem Juggernaut hatte: im großen und ganzen wird dementiert, dass es wirklich passiert sei, aber irgendjemand hat ein Bild gemalt und einige finden die Vorstellung einfach zu herrlich, als dass sie es vergessen könnten.
Eine weitere große Quelle für WTF-Momente ist Lucifel, der Enoch mit Rat und Tat zur Seite steht. Lucifer, der zu der Zeit anscheinend noch nicht wegen Hochverrats gefeuert wurde, tritt ständig auf und erledigt häufig die Narration. Eigentlich könnte sich der höchste Erzengel wahrscheinlich locker alle sieben Gefallenen in einem Zug unter den Arm klemmen und noch vor dem Mittagessen fertig sein, aber obwohl er durch die Zeit reisen und sie auch stoppen kann, darf er nicht direkt eingreifen und nur leichte Unterstützung leisten. Lucifel stellt darüber hinaus die Speicherpunkte im Spiel dar. Man merkt schon, wenn man sich ihm nähert, denn dann ist er immer gerade dabei mit seinem Handy zu quasseln. Wer ist an der Leitung? Gott, natürlich. Sie unterhalten sich dann meist über Enoch, ob er der Aufgabe denn jetzt eigentlich gewachsen sei und was sonst so gerade passiert. Manchmal schlägt Lucifel Gott auch vor, mal eine Pause zu machen und ihm in der Zeit den Laden zu überlassen, oder die beiden witzeln darüber, dass ein Sterblicher die zwei mal wieder verwechselt hat. Ganz besonders bizarr wird es noch, wenn Lucifel auf einmal anfängt mit dem Spieler zu reden und ihm nach dem ersten Kapitel sagt, dass man den Rest jetzt in sieben Stunden schaffen könnte, wenn man gut ist. Whaaaaa?

Im Grunde mag ich viele Spiele, die einen guten Mindfuck betreiben. In No More Heroes ist der Hauptcharakter eingeschlafen und plötzlich befindet man sich spielerisch in einem Top-Down-Shooter. Nier unterbricht sein rudimentäres Gameplay durch mehrstufige, einfach nur abstruse Kurzgeschichten. Ein ganzes Kapitel von Bayonetta besteht aus einem Shooter à la Fantasy Zone. El Shaddai setzt dem Ganzen aber noch einen drauf, indem man während des ersten Spieldurchlaufs absolut keine Ahnung hat, was nun KEINEN Mindfuck darstellen soll. War das jetzt Absicht, dass ich den Bosskampf verloren habe? Warum tanzt da ein Mann im Vordergrund und versperrt mir die Sicht auf den Kampf? Gehört das so? Sollte mir diese Sequenz etwas sagen? Und dann stirbt man mal auf eine ungewöhnlich Art und Weise, bekommt einen gefaketen Credits-Bildschirm und wird ins Hauptmenü zurückgeschmissen. Ich liebe es und bade in diesem Zeug und El Shaddai ist eine Goldgrube für so einen Kram.


Um nun alles abzurunden, steht auch der Ton in einem gar nicht so üblen Licht. Der Soundtrack allgemein ist sehr abwechslungsreich, geht von albern bis episch und leistet einen guten Job, das hervorstechende Leveldesign zu untermalen, wobei mir leider noch ein oder zwei Stücke fehlen, die ein paar Situationen den richtigen, emotionalen Kick geben.

Japanophile können zwischen englischer und japanischer Sprachausgabe mit vielen verschiedenen Untertiteln wählen - ich habe die englische und die japanische getestet und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Lokalisierung in jedem Fall sehr gut ist. Zumindest gut genug, so dass ich nicht den Bildschirm durch Sprachtexte verunstalten muss. Leider lässt die Lippensynchronität sehr zu wünschen übrig, in einigen Sequenzen bewegen sich noch Münder, die bereits seit einigen Sekunden nichts mehr zu sagen haben. Das fällt allerdings wegen der seltenen Stellen, in denen man überhaupt mal jemanden unmaskiert im Portrait reden sieht, kaum ins Gewicht.

Wenn man nach einer echten Alternative zum Mainstream-Beatertum sucht und keine Angst vor den feuchten Träumen eines Spieledesigners hat, dann ist El Shaddai: Ascension of the Metatron eine Zuschlagepflicht. Die Spiellänge ist mit zwischen acht und zehn Stunden auf einer handelsüblichen Länge, einzig das Fehlen eines echten New Game+ tut ein bisschen weh - man kann zwar im Anschluss härtere Schwierigkeitsgrade anpacken, optional Bildschirmleisten einschalten und nach ein paar versteckten Objekten suchen, allerdings gibt es außer ein paar Kostümen keine zusätzlichen Gimmicks zu finden. Ein neuer Durchgang ist daher nur für Highscore- und Achievement-Jäger interessant. Rian

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Spiele des Artikels

RELEASE
09. November 2011
PLATTFORM
Playstation 3
Plattform
Xbox 360
Plattform

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