Zurück zu den Wurzeln

(Artikel)
Rian Voß, 20. September 2011

Zurück zu den Wurzeln

Gemini Rue: Verschwörung auf Barracus

Der Bruder entführt, die Marke abgelegt - Ex-Cop Azriel Odin hat es nicht leicht, vor allem nicht, wenn sein eigen Fleisch und Blut von der Mafia von Barracus, der Boryokudan, in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt wurde, wo komische Experimente an den Insassen durchgeführt werden. Das von Wadjet Eye entwickelte und von Daedalic Entertainment in Deutschland gepublishte 2D-Point-'n'-Click-Adventure Gemini Rue: Verschwörung auf Barracus verspricht mit einer durchdringenden Atmosphäre und klassischer Optik von vor 20 Jahren eine Rückkehr zu alten Werten im Bereich der Abenteuerrätsler - mit sämtlichen Vor- und Nachteilen.

Abgezielt wurde bei der Schaffung dieses Spiels eindeutig auf das "Kennste einen, kennste alle"-Prinzip, welches sich ja auch in diesem Genre seit Maniac Mansion kaum geändert hat: Hat man sich mal irgendwann in seinem Leben Monkey Island 1 oder 2, Indiana Jones and the Fate of Atlantis, The Dig, Beneath a Steel Sky oder sonstige LucasArts-Adventures in der Blütezeit der SCUMM-Engine eingeschmissen und gemocht, dann findet man sich sofort vom Gefühl her in Gemini Rue zurecht, denn bei Figuren und Umgebungsobjekten lassen sich selbstverständlich alle Pixel einzeln zählen. Das ist bei Weitem nichts Schlechtes, andere Entwickler leisten schließlich mit weitaus mehr Grafikkartenbeanspruchung bei weitem keine solch durchwachsene Stimmung wie die hier auf Barracus inszenierte - wegen Wetterstationen befindet sich etwa der Planet in einem Zustand des Dauerregens, was die Minenarbeiten, quasi die Haupteinnahmequelle, sehr begünstigt. Das verleiht der ohnehin schon ziemlich versifften, von unansprechbaren Drogenjunkies auf Entzug und Mafia-Schergen bevölkerten Stadt noch mal das kleine Bisschen Extra-Dystopie. Will heißen: Ich fühlte mich auf Barracus pudelwohl.

Eine ganz andere Situation zeigt sich in der Anstalt: als Insasse Delta-Six beginnt man sein Abenteuer damit, dass einem frisch die Erinnerungen von der Platte geputzt worden sind. Anscheinend hat man einen Ausbruchsversuch gestartet, das erzählen einem zumindest die Mithäftlinge. So einen Fluchtversuch fand der Chef der Einrichtung, der Director, nicht so toll, vor allem weil er durch die Gedächtnislöschung Delta-Six wieder von vorne trainieren muss - was auch immer das bedeuten mag. Weiteres Ziel der Operation ist klar: Ausbrechen. Aber bevor man das tun kann, muss man erst einmal herausfinden, wem man in dieser klinischen und hochkarätig durchautomatisierten Umgebung überhaupt trauen kann. Da kann ja jeder kommen und einem vom Pferd erzählen, dass man schon jahrelang beste Kumpels ist, ja ja.


Um die Ziele von Azriel und Delta-Six zu erreichen, also einbrechen und ausbrechen, zu verwirklichen, bedient man sich entgegen der Erwartungen nicht eines aufgeblasenen Menüs am unteren Bildschirmrand, welches mit Tätigkeiten wie "Nimm", "Schieb", "Rede", "Benutze" oder "Zieh" gefüllt ist, sondern sämtliche Aktionen werden über ein Rechtsklick-Menü durchgeführt. Das ist einerseits ganz nett gedacht, allerdings ist man von den Interaktionsmöglichkeiten im Vergleich zu den Produkten unserer werten deutschen Adventure-Entwickler doch schon ziemlich verwöhnt, so dass es doch irgendwann etwas nervig wird, für jeden Kleinscheiß rechtszuklicken und dann im Mini-Fenster die gewünschte Aktion auszuwählen. Mit einem Doppelklick wird zwar die letzte Aktion wiederholt, aber das ändert sich ja ständig, da hätte man auf den Doppelklick auch einfach die Handaktionen als Standard legen können. Zudem liegt das Abkürzen einer Geh-Aktion auf der... Escape-Taste? Ich weiß nicht so recht, warum man eine so umständliche Taste benutzen muss, um eine Aktion zu beschleunigen, die einen auf den Wecker geht, das klingt für mich widersprüchlich. Und um das Inventar einzusehen, muss man übrigens ebenfalls rechtsklicken, was insofern immer ein paar Sekunden kosten kann, da man in der Umwelt nach interaktiven Gegenständen erst einmal Ausschau halten muss, denn ansonsten kann man sich sein Hab und Gut nicht ansehen.
Das sind nun alles kleine Benutzungshindernisse, die nicht wirklich weiter ins Gewicht fallen oder großartig den Spielfluss stören, aber wenn ich mir überlege, wie wenig sich Adventures seit 1988 weiterentwickelt haben, dann ist jeder noch so kleiner Bedienungsschnitzer in einem Spiel, das auch noch eine Oberfläche von Anfang der 90er präsentiert, meiner Meinung nach ein gewaltiger Schuss vor den Bug und hätte eigentlich vermieden werden können.

Was dagegen sehr gut funktioniert, und natürlich in so einem Genre eigentlich das Wichtigste ist, ist der Umgang mit den Rätseln. Hier heißt es nämlich: selber denken! Keine Tipps, keine Hinweise, aber auch keine Aufgaben der Unmöglichkeit. Mir hat sehr gut gefallen, dass viele Lösungen von Problemen auf Azriels Seite darauf beruhen, ordentlich Recherche zu betreiben. Der Ex-Cop hat seinen Kommunikator immer dabei, mit denen er Leute in seiner Telefonliste ausfragen oder sich Profile von ihm bekannten Menschen angucken kann. Auf Barracus gibt es zudem immer wieder Zugang zu öffentlichen Terminals, bei denen man sich über eingetippte Suchwörter zu Orten oder Personen Infos ansehen kann, die einen auch häufig wirklich weiterbringen. Man muss nur wissen, wonach man suchen soll. Da schlägt das Privatermittler-Herz höher!
Wer aber eher darauf steht, die Rätsel abseits der Straße zu lösen, der findet bei Delta-Six seinen Spaß: ein Schießen-Minigame im Stile vom Indiana Jones-Faustkampf für Essens-Tickets spielen, aus dem Klosett ein Eisenrohr fischen (was man damit alles machen kann!), mit Gewichten verschiedener Größe Puzzle lösen oder ein paar frisch aus Prof. Laytons Rätselkiste gefischten Hirnzerstäubern absolvieren. Da ist alles für alle dabei!


Ich selbst mochte natürlich das etwas düstere Barracus lieber, die Neonröhren-Beleuchtung im Gefängniskomplex war mir immer etwas unangenehm. Gerade unter den Gewitterwolken fällt auch schön auf, dass einige Verbesserungen am Retro-Gewand vorgenommen worden sind, so gefallen mir die englischen Synchronsprecher sehr gut (ich musste lange überlegen, welche Sprachversion ich nun letztendlich spielen würde, und das Original hat gegen die deutsche Vertonung knapp gewonnen), der Sound kommt aus einem Land diesseits des 21. Jahrhunderts und die Musik gefällt gerade wegen seiner nicht über Bord laufenden Dominanz sehr gut.

Leider hat diese Münze auch eine Schattenseite, denn Azriels Abenteuer schleppt ein paar schlimme Vergehen der alten Generation mit, welche ich formschön als Monkey-Island-Scheiß bezeichnen möchte. Da gehört zum Beispiel dazu, dass man den Bildschirm kleinfein nach Objekten absuchen muss. Jetzt bin ich natürlich schon ein alter Hase und weiß, dass ich damit Probleme habe, also führe ich die Bildanalyse immer sehr kleinkariert durch, um auch ja nichts zu übersehen. Aber denkt ihr, ich habe nach zehn Minuten herausfinden können, dass da bei den Füßen eines an Rohren festgebundenen Delta-Six eine Glasscherbe liegt, mit der er sich befreien könnte? NEIN! Ich habe wie dämlich alles in der Nähe von dem Kerl auf Benutzbarkeit abgegrast, aber dieses kleine Objekt, das eigentlich jeder angeseilten Person ins Auge springen müsste, ist mir vollkommen entgangen und erst ein Walkthrough konnte mir den erleichternden Facepalm bescheren.
Genauso schlimm ist es, wenn man genau weiß, was man tun möchte, aber die Figur das einfach nicht umsetzen mag. Ich schob etwa mit Azriel eine Kiste unter eine Feuerleiter. Auf die Kiste habe ich mich gestellt und wollte nach der Leiter greifen, doch die Arme waren zu kurz. Okay, kein Problem, auf Hüfthöhe befindet sich ja auch noch ein Rohr in der Wand. Aber wenn ich Azriel anwies, es mit dem Hand-Symbol zu benutzen, dann sagt er nur, dass er das nicht machen kann. Also dachte ich natürlich, dass ich irgendwo irgendwas vergessen habe, um das Rohr begehbar zu machen, bin wie bescheuert herumgelaufen, nur um viele Minuten später zu lesen, dass man natürlich das Fuß-Symbol mit dem Rohr benutzen muss, um sich darauf zu begeben. HÄTTE ER NICHT EINFACH SO ETWAS WIE "Das sollte ich nicht greifen, sondern mich draufstellen" SAGEN KÖNNEN?! MANN! Genauso wie man mit Delta-Six einfach mal den Mund mit einer Tür benutzen soll, weil da natürlich eine Sprechanlage dran ist, was einem selbstverständlich niemals jemand sagt.

Eine weitere coole Sache ist, dass man in diesem Spiel stirbt - und es anscheinend an einigen Stellen auch einfach vorgesehen ist, da es für mich unmöglich erscheint, das entsprechende Rätsel unter dem absurd knapp berechneten Zeitlimit zu lösen. Das wäre nicht so schlimm, wenn man sich auf die Auto-Speicher-Funktion tatsächlich verlassen könnte und sie bei jedem Szenenwechsel ihren Dienst tun würde, aber sie agiert offensichtlich nur an vom Entwickler festgelegten Stellen, welche häufig gar nicht mal so wichtig sind. Nachdem ich einmal gestorben war, durfte ich zumindest zehn Minuten Spielzeit wiederholen. Lieber gleich durchgehend auf eigene Faust sichern.
Und noch etwas Schönes: Manchmal fällt die Musik einfach aus. Oder sie startet nicht. Ich weiß nicht, vielleicht ist das auch Absicht, aber es kommt schon mal minutenlang vor, dass kein klanghafter Ton an mein Ohr dringt, was ich bei dem guten Soundtrack doch schon relativ schade fand. Genauso wie Delta-Six anscheinend manchmal sprechen kann, aber im Gegensatz zu Azriel seine Inventar-Objekte nur als Text und nicht mündlich beschreibt. Verstehe wer will.


Doch auch der Monkey-Island-Scheiß ist ja noch vertretbar. Irgendwie. Leute, die dieses Spiel spielen, sind's ja eigentlich gewohnt und es ist nun nicht so, dass die Rätsel unlogisch wären, nur die Bedienung ist stellenweise im Eimer. Was mich aber regelrecht enttäuscht hat, war die Entwicklung der Storyline, die sich im Grunde um einen einzigen, allesentscheidenden Twist dreht, welcher meiner Meinung nach gar nicht so beeindruckend daherkommt. Vor allem aber wird das Ende rasend schnell und ziemlich plötzlich aufgetischt. Ich weiß noch ganz genau wie ich dachte: "Okay, wenn JETZT ERST der Hauptteil des Spiels beginnt, dann bin ich beeindruckt. Wenn das Spiel jetzt tatsächlich gleich endet, dann weiß ich nicht, was ich davon halten soll." Leider war's Letzteres.
Nach stundenlanger Kleinarbeit ohne großartige Exposition oder Weiterentwicklung der Storyline (von Anfang bis kurz vor Ende bleibt der Plan unserer zwei Hauptcharaktere exakt der gleiche) und der Einführung recht bedeutungsloser Charaktere wie der Kurzauftritt des Frachtpiloten, der eine Drogenlieferung in den Dutt gesetzt hat, der böse, hinterhältige Mithäftling von Delta-Six, dem man ohnehin von der ersten Sekunde an nicht vertraut, und ansonsten noch einer ganzen Menge leerer Versprechen, kann ich mir die Handlung einfach nicht mehr schönreden. Die Mafia auf Barracus wird nur durch Zufall von Azriel gebeutelt, die abgeschaltete Wetterstation, die eigentlich in Betrieb hätte sein müssen, um das Regenwetter zu erzeugen, wird mit einem "Hm, das ist ja komisch"-Kommentar vergessen, die Persönlichkeit einer weiblichen Kontaktperson bleibt für immer ein Rätsel und die Verschwörung auf Barracus verpufft in einem halbminütigen, metaphysischen End-Dialog ohne dass sie je einen Galaxie-umspannenden Höhepunkt erreicht. Als die Credits rollten, habe ich mich als Konsument tatsächlich irgendwie verraten gefühlt, weil ich etwa sieben bis acht Stunden meines Lebens (für einen durchschnittlichen Adventure-Spieler wie mich doch schon recht kurz) in einen M. Night Shyamalan-Plot investiert habe. Manche mögen sagen: "Der Weg ist das Ziel", schließlich war die Laune bis dorthin doch recht gut, aber wenn man letzten Endes auf das verschenkte Potenzial zurückblickt, dann ist das einfach nur frustrierend.
Immerhin lässt sich das Spiel noch gut ein weiteres Mal durchzocken, denn es gibt Entwickler-Kommentare für all diejenigen, die sich fragen, was die Leute da sich so eigentlich gedacht haben.

Ich bin bei meiner Wertung für Gemini Rue vollkommen hin- und hergerissen. Wenn das Spiel nicht so kurz wäre und eine Geschichte gehabt hätte, bei der sich auch das involvieren rentiert hätte, dann wäre es trotz der mir unverständlichen Steuerungsmängel wegen der Umsetzung der Atmosphäre, des 16-Bit-Charms, des Sounds, des mitgelieferten Soundtracks, der Entwicklerkommentare und der cleveren Rätsel ein gelungener Titel. So wie es aber letztlich ist, ist Gemini Rue ein Fall für die Sonderangebotskiste und ich muss mir doch noch mal ganz gründlich anschauen, weswegen dieses Spiel, welches ältere Adventures keinesfalls übertrifft, überhaupt irgendwelche Preise abgestaubt hat. Rian

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