Sleeping Dogs

(Artikel)
Benjamin Strobel, 13. September 2012

Sleeping Dogs

Open-World-Genremix in Hongkong

Als Wei Shen sich als Undercover-Cop bei den Triaden einschleichen sollte, wusste er genau, was ihn erwartet. Hongkongs Gangster haben seine Schwester auf dem Gewissen und er will sie dafür bezahlen lassen. Auf dem schmalen Grad zwischen persönlicher Vendetta und Verantwortung als Polizist lernt er beide Seiten kennen. Sleeping Dogs ist nicht ein Spiel, auf das wir alle gewartet haben. Aber es ist genau das, was wir spielen sollten.

Für mich ist Sleeping Dogs eine Überraschung - und zwar gleich doppelt. Aus der Asche von True Crime: Hong-Kong (nie erschienen) aufgefahren, fand ich es bemerkenswert, dass Square-Enix die Leiche aus dem Hause Activision gefleddert hatte. Die True Crime-Reihe hat Erinnerungen von Mittelmaß und Schulterzucken bei mir zurückgelassen. Vielleicht hatte Activision es völlig zurecht gecancelt? Und dann kamen richtig gute Trailer und schon bald darauf das fertige Spiel - und wieder war ich überrascht: was macht Sleeping Dogs so gut? Und warum wird es ständig mit GTA verglichen?


Wie GTA ist Sleeping Dogs im Kern eine Gangster-Geschichte in einem Open-World-Spiel. Es ragen jedoch die Wurzeln des spirituellen Vorgängers True Crime hinein: ihr spielt nicht den Gangster, sondern einen Undercover-Polizisten. Was die Spiele jedoch mehr unterscheidet als die Rolle des Protagonisten, ist das fernöstliche Setting. Während GTA sich bisher nicht aus den Staaten gewagt hat, werden hier Grenzen bis nach China überschritten. Hongkong ist, lebt und fühlt anders als eine amerikanische Großstadt. All die kulturellen, sozialen und visuellen Einflüsse Chinas machen das Spiel zu einer interessanten Sightseeingtour an der Südküste des Landes.

Aber Sleeping Dogs hebt sich auch in Sachen Gameplay von GTA deutlich ab. Es ist im Grunde völliger Unsinn, den Vergleich zwischen den Spielen zu ziehen, nur weil sie beide aus der Open-World-Schublade stammen oder weil es in beiden Spielen Feuerwaffen gibt. Das sieht man auch schon daran, dass in den ersten Stunden von Sleeping Dogs Waffen noch gar nicht vorkommen. Stattdessen ist man bei Auseinandersetzungen auf den Fuß- und Faustkampf angewiesen. Und hier sehe ich eine der ganz großen Stärken von Sleeping Dogs: alles, was mit Kampf zu tun hat, ist großartig. Die Animationen, die Steuerung, die Interaktion mit der Umgebung. Kämpfe können zufällig passieren oder auch Story-basiert sein und in der Regel bekommt man es mit einem ganzen Haufen zu tun. Inmitten der Schlägerei findet sich der Spieler wieder: mit ein paar einfachen Kombos teilt man Basis-Schläge aus. Und wie in der Arkham-Reihe ist ein Knopf zum Kontern reserviert. Besonders gut gefällt mir dann noch das Greifen. Im Kampf kann man sich Feinde einfach schnappen und dann geht es los: weitere Schläge oder ein Überwurf? Oder renne ich mit seinem Kopf gegen die nächste Wand? Oder schmeiße ich ihn über das Geländer? Immer, wenn man sich denkt, es wäre cool, wenn ich jetzt SOWAS machen könnte, kann man es auch. Und das macht den Spaß aus!
Neben einer großen Palette von Standards gibt es auch noch Environmental Kills. In der deutschen USK-Version des Spiels fehlen eine Reihe der brutalsten Morde, aber das Prinzip bleibt ziemlich cool. Werft Feinde in Müllcontainer oder auf Kisten. Schleudert sie in Aquarien. Was gerade da ist, kann auch benutzt werden. Die Entwickler haben sich abhängig von den verschiedenen Umgebungen eine ganze Menge dieser Interaktionen überlegt und ihre kreativen Ideen machen einfach Spaß. Sleeping Dogs würde so wie es ist auch als Prügel-Spiel funktionieren. Aber das ist noch lange nicht alles.

Wenn Waffen ins Spiel treten, eröffnet sich eine völlig neue Dimension. Nach Stunden des Herumrennens gibt es plötzlich ein Tutorial und man lernt wieder Neues. Es gibt ein einfaches Deckungs-System, das ohne Mängel funktioniert. Gleichzeitig flüstert mir John Woo ins Ohr: Bullet Time. Tu es! Und ich springe aus der Deckung und rutsche über ein Auto - während ich auf meine Feinde ziele, verlangsamt sich das Spiel und ich kann mir ihre Köpfe in aller Ruhe vorknöpfen. Ich gebe zu, Stranglehold war damals nur ein mittelmäßiges Spiel. Aber (fast) alles, was es hatte, findet man auch im Waffenkampf von Sleeping Dogs. Außer, dass man plötzlich mit einem Griff auch Feinde entwaffnen kann, um wieder mit Melee-Angriffen zu arbeiten. Sleeping Dogs könnte ein vollwertiges Strangehold sein. Aber wieder ist es mehr als das.


Wie in den meisten Open-World-Spielen - und der Credit geht wirklich an GTA - kann man sich auch bei Sleeping Dogs jederzeit Autos zusammenklauen, Passanten von ihren Motorrädern werfen und, wenn man Pech hat, auch von der Polizei dabei erwischt werden. Die wissen ja nicht, dass man Cop ist! Also muss man schön in der Rolle des bösen Buben bleiben und die Polente abwimmeln. Insgesamt ist der Kampf mit der Polizei bei Sleeping Dogs nicht so schwer und steht auch eher im Hintergrund. Fährt man in einem Auto, so kann man nicht nur mit seiner Waffe während des Fahrens zielen (Bullet Time!), um die Reifen des Verfolgers zum Platzen oder den Motor zum Stillstand zu bringen. Man kann es auch eleganter machen, indem man andere Wagen rammt. Dafür gibt es eine eigene Taste! Und wie fast jede Mechanik in Sleeping Dogs macht sie wirklich Spaß. Das Bewundernswerte daran ist, wie zahlreich diese Elemente sind. Es gibt immer noch etwas Neues. Sogar später im Spiel gibt es Momente, in denen man denkt: Wow, das haben sie auch noch eingebaut? Ich muss nicht erwähnen, dass die Nebenmissionen auch eine Reihe von Wagenrennen beinhalten, die nicht nur wegen glänzend-nasser Fahrbahn an Need For Speed: Underground erinnern, sondern auch vom Feeling her. Driften mit der Handbremse um Kurven ist nur ein weiteres Gimmick in der langen Liste von Elementen, die einfach funktionieren.

Verfolgungsjagden spielen sich bei Sleeping Dogs aber nicht nur auf der Fahrbahn ab. Ab und zu gibt es einen Lümmel, der einem davonrennt. Natürlich muss man da hinterher! Und diese Verfolgungen zählen zu meinen liebsten Passagen im Spiel. Jedes mal freue ich mich darauf, welchen Parkour sich die Entwickler noch ausgedacht haben. Über Häuser und Dächer und Autos und in Tiefgaragen, Gärten und alten Fabriken. Manchmal kreuz und quer durch Hongkongs Innenstadt. Noch während ich die Gangster verfolge, freue ich mich über jede neue Ecke der Spielwelt, die ich dadurch entdecke. Wie, da konnte man einfach hoch? Wie, man kann hier durchs Fenster einfach zur Garage rüber springen? Erneut bewundere ich die Kreativität der Entwickler, welche Orte und Wege sie sich dafür überlegt haben. Aber das Ganze wäre noch etwas langweilig, wenn sie nicht Semi-Quick-Time-Events eingebaut hätten. Per Tastendruck kann man über Deckungen und Zäune springen oder auf höhere Ebenen klettern. Befindet man sich im Lauf bei einer Verfolgungsjagd, muss man den Knopf aber auch im richtigen Augenblick drücken, sonst stolpert Wei etwas ungeschickt über das Hindernis, verliert Zeit und bekommt Abzüge bei den Punkten. Ich muss ein bisschen an Szenen aus Shenmue denken, auch wenn es hier natürlich keine echten QTEs sind. Aber gerade weil es wieder so nahtlos ins Spiel eingebettet ist, macht es Spaß. Sonst würde ich vielleicht denken: die Mechanik gibt es ja nur, wenn man jemanden verfolgen muss. So ist es ein Element, das zum Standard gehört, aber an dieser Stelle noch mal verfeinert wird. Das ist so verdammt geschickt!

Kommen wir zu den erwähnten Punkten, die man sich verdienen kann. Sleeping Dogs wälzt sich wohlig durch die Genres und lässt auch Skill-Trees nicht aus. Erfüllt man Missionen für die Triaden, bekommt man Punkte für den Triaden-Skillbaum und ebenso gilt das für Polizeimissionen. In vielen Missionen kann man auch Punkte für beide Bäumchen sammeln. So gibt es für Kills und ausgeschaltete Feinde Boni bei den bösen Buben, während man mit vollen Punkten für die Cop-Seite beginnt und Abzüge kassiert, wenn man Unschuldige verletzt oder sein Auto auf einem Hydranten parkt. Bei den Triaden kann man überwiegend Kampffähigkeiten verbessern, während man im Cop-Tree neue Fertigkeiten mit Waffen und Autos erwirbt. So kann man Fahrzeuge einfacher knacken oder auf der höchsten Stufe Schusswaffen aus dem Kofferraum ziehen. Neben Hauptmissionen der Polizei und der Triaden gibt es auch ein paar Nebenaufgaben, mit denen man sich vorwiegend Ansehen in der Stadt und ein bisschen Geld verdienen kann. Für Bares kann man sich neue Kleidung und Vehikel kaufen (die anschließend in Garagen jederzeit abgeholt werden können). Ein Arsch voller Knete nützt aber nichts, wenn man nicht einen gewissen Bekanntheitsgrad erfüllt, um sich die coolen Sachen besorgen zu dürfen. Will man teure Flitzekarren, muss man vorher erst ein paar Gefallen erledigen, selbst wenn man schon gespart hat. Letztlich ist das aber völlig optional, da man auch mit Standard-Kleidung und dem eigenen Moped durch die Stadt kommt. Coolness ist extra.


Was mir am Missionsdesign besonders gut gefällt, ist die Tatsache, dass ich mich nie überrannt gefühlt habe. Es gibt immer nur eine oder zwei Hauptmissionen und die kann man in beliebiger Reihenfolge erledigen. Und wenn man auf die Nebenmissionen keine Lust hat, gibt es auch kaum spielerische Nachteile dadurch. Wenn ich so eine Mission übernehme, dann weil ich Bock darauf habe. Und wenn nicht, dann bekomme ich auch keine nervigen Anrufe oder SMS auf mein virtuelles Handy, weil ich Hinz oder Kunz doch mal anrufen oder ihm helfen sollte. Diese Anrufe sind alle storybasiert und erfüllen so ihren Zweck. Nervig wird das Feature jedoch nicht. Vielleicht will ich einfach nicht jede Frau zum Bowling ausführen. Oder einen Strip Club besuchen. Ich möchte der Geschichte nachgehen, weil sie in den meisten Aspekten interessant ist. Und genau darin unterstützt mich das Spiel. Und das kann sich seine Geschichte auch erlauben.
Die flache Trennung von gut und böse wird dort schnell aufgehoben: als Undercover-Bulle muss Wei Shen sich schon bald die Hände schmutzig machen. Unter den Gangstern findet er Freunde und gleichzeitig frisst die Gewalt und das Verbrechen seinen Geist auf. Es plagen ihn Alpträume und Gewissensbisse, aber auch Gedanken an Rache und Vergeltung. Stirb als Held oder lebe solange, bis du selbst der Böse wirst? Abgründe des Menschlichen kann man beim Durchspielen von Sleeping Dogs durchaus erfahren - aber niemals in schwarz-weiß, sondern mit allen Konsequenzen irgendwo dazwischen.

Als Open-World-Genremix muss Sleeping Dogs eine Menge leisten. Aber das macht es mit Leichtigkeit! Ihr findet hier einen Prügler und einen Shooter, einen Racer und eine offene Spielwelt, müsst aber keine Abstriche in Kauf nehmen. Jedes Feature wurde zu Ende gedacht und mit derselben Sorgfalt ins Spiel gebracht, als wäre es das einzige Element. Hier führen alle Stränge zusammen, anstatt zu zerfasern. Sleeping Dogs ist ein lebendiges Spiel, das von A bis Z funktioniert. Hier kann sich das Genre noch etwas abgucken - welches es auch sein mag! Nex

Kommentare

Ben
09. November 2012 um 17:55 Uhr (#1)
Sleeping Dogs ist mit einiger Verzögerung nun auch in Deutschland erhältlich!
Gast
26. April 2024 um 19:21 Uhr
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