Zwei Gamer im Fast-Abenteuer

(Artikel)
Rian Voß, 26. November 2010

Zwei Gamer im Fast-Abenteuer

Constantin Gillies "Extraleben"

Wir sind ja nicht nur darin bewandert, über Bücher zu Spielen zu schreiben, sondern nur kommt als Premiere auch noch das Abhandeln von Büchern über Spiele dazu. Naja, oder über Spieler. In Constantin Gillies Extraleben geht es nämlich um zwei Freunde, die zwar auch gerne mal was aus der heutigen Zeit über den Bildschirm flimmern lassen, im Herzen aber die totalen Retromanen sind, die mit dem Joystick in der Hand groß wurden. Neben einer ordentlichen Portion Zockergelaber, Computernostalgie, Informatikerdeutsch und Popkultur aus den 80ern gilt es aber auch noch den geheimen Plot um die versteckte Nachricht in Raid Over Moscow zu entwirren.

Erz-Nostalgiker Nick und sein Kumpel, der Erzähler (wenn er im Buch einmal namentlich erwähnt wird, dann habe ich das überlesen. Er und Nick sprechen sich seit Jahren eh nur noch mit "Alter!" an), arbeiten seit ihren pausierten Studiengängen in einer Zeitungsredaktion als Dödel für alles, die eigentlich die ganze Drecksarbeit erledigen, während die Journalistenfuzzis für ihre Recherchearbeit die Lorbeeren einkassieren. Naja, was soll's, die zwei kümmert's nicht so sehr, denn als waschechte Nostalgiker finden sie ihren Trost in alter Hard- und Software, um dem Eskapismus zu fröhnen. Da gehen Nick und sein Freund eines lauen Abends mal wieder ein paar Klassiker durch, von moderneren Games über Doom (natürlich auf 200 Mhz-Rechnern, damit es perfekt läuft) zu einem frisch von eBay ersteigerten C64. Schnell mal die alte Diskettensammlung rausgekramt und los geht die Reise auf dem Erinnerungshighway.
Bei Raid Over Moscow fallen den beiden dann ein paar Änderungen zur eigentlichen Originalversion auf, welche sie zwar zuerst als Spaß von irgendeinem Bootlegger abtun, aber dann wird der Fast-Informatiker Nick doch neugierig und holt nach ein paar Analysen eine US-amerikanische Adresse aus den paar Zeilen Code. Das riecht nach Abenteuer! Naja, so richtig ernst nehmen die Protagonisten das Ganze zwar nicht, aber es reicht, um den regulären Trip in die Staaten zu rechtfertigen:

"Seit Jahren verbringen wir unsere Sommer mit solchen "Forschungsreisen", wie Nick sie nennt. Es ist die perfekte Form des Reisens - ohne echtes Ziel, ohne wirkliche Erlebnisse, ohne Frauen. Angefangen hat das, glaube ich, an einer Donutbude im Mittelwesten, irgendwann, nachdem wir alle Nationalparks, Städte und 15 Jahre alten Historical Markers gesehen hatten. Auf dem Dach des Imbisses thronte damals ein riesiger Kringel aus Fiberglas, doppelt so hoch wie das eigentliche Haus, und wir überlegten uns, dass es eigentlich schade sei, wie selten man diese Sechzigerjahre-Deko heutzutage noch sieht. Da hatte Nick die geniale Idee, ab sofort nur noch überdimensionale Essens-Skulpturen zu suchen, und so haben wir es dann auch gemacht. Wir fuhren überall dahin, wo die Zeit stehen geblieben war, und fotografierten haushohe Hamburger, Coladosen, Milkshakes, Kühe, Schweine, Pizzas. Nach einem Frühstück in Martha's Café in Blackfoot/Idaho, dessen Parkplatz ein fünf Meter hohes Figerglasabbild eben jener Martha ziert, erklärten wir die Suche für beendet und fuhren einfach so weiter rum. Im nächsten Jahr ging das gleiche Spiel mit Flugzeugfriedhöfen los, das Jahr darauf besuchten wir alles, was mit der NASA zu tun hat, später kamen ehemalige Atomtestgelände dran, und so weiter.
Jetzt also Videospiel-Archäologie. Warum auch nicht?"


Hingeflogen, Auto geliehen, ab nach New Mexiko, zum ersten Meilenstein der Reise. Auf dem Weg wird der Erzähler nicht müde, Erlebnisse vergangener Reisen zu schildern und vor allem darauf einzugehen, was für spezielle Regeln sich die zwei für solche Ereignisse auferlegen: Keine Gespräche über die Heimat, keine Doppelwege, nur die billigsten Motels. Da klingen immer wieder neue Traditionen durch, wie das Beiwohnen der Nuttenparade im Motel in L.A., das Besuchen einer bestimmten Arcade, das Ignorieren der Zeitzonen (genau so aufstehen wie in D!). Da bekommt man Amerika einmal aus der Sicht des ziellosen Touristen zu sehen, sozusagen der klassisch amerikanische Road Trip aus deutscher Perspektive. Und aus dem Blickwinkel von zwei absoluten Retro-Nerds, die ihre ganz eigenen Mittel haben, um Anspannungen auf solchen Fahrten zu überwinden:

"Normalerweise würden wir jetzt eine Runde Rampage zocken - der perfekte Arcade-Klassiker für zwei passiv-aggressive Nerds, die zu lange auf engem Raum zusammengehockt haben. Das Game vereinigt nämlich genau jene zwei Elemente, die eigentlich für jedes Videospiel gesetzlich vorgeschrieben sein sollten: Sachen kaputtmachen und sich prügeln. Eigentlich liegt der Sinn des Spiels darin, mit einem Riesenmonster eine Stadt in Schutt und Asche zu legen. Man kann entweder King Kong, Godzilla oder ein drittes Tier steuern, von dem wir nicht wissen, wie es aussieht, da wir ja immer nur zu zweit spielen. Mit seinem Vieh muss der Spieler dann so lange auf ein Gebäude einboxen, bis es zusammenbricht, also das Haus. Bis dahin kommen wir allerdings meist nicht, weil wir vollauf damit beschäftigt sind, auf das Monster des Gegners einzudreschen - diese Möglichkeit hat der Programmierer nämlich netterweise auch eingebaut. Ich zimmere mit meinem Gorilla auf Nicks Dinosaurier ein, oder umgekehrt, bis irgendwann die Zeit abgeläuft oder wir von angreifenden Hubschraubern abgeschossen werden. Die Hochhäuser haben dabei nie auch nur einen Kratzer abgekriegt."

Insgesamt wird viel und vor allem glaubwürdig über eine langjährige Männerfreundschaft berichtet, mit allen Höhen und Tiefen, mit dem Schweigen auf der Fahrt, wenn man sich nichts sagen kann, weil man sich eh schon alles mindestens einmal erzählt hat (irgendwann kommt halt der Punkt, an dem man entweder selbst bei der Geschichte dabei war oder sie schon gehört hat), das gemeinsame Erleben von in den Köpfen zu Kapitalverbrechen hochgehandelten "Lausbubenstreichen" und die peinlichen Momente, in denen man männlich-cool tun möchte, wenn jemand eine emotionale Phase hat. Nick und sein Kumpel kommen äußert glaubwürdig rüber und ich kann mir gut vorstellen, dass diese beiden Kerle wirklich so mindestens einmal in jeder größeren Stadt existieren - die zwei Fast-Loser mit ihrer Freundschaft auf Quasi-Ehe-Status, die eben ab und zu nach Amiland gondeln und nach der Rückreise monatelang nur noch Nudeln essen, um die Ausgaben wieder reinzukriegen.

Ein Konzept, das sich dann auch durch das ganze Buch zieht, ist das ständige Herunterreißen von paranoiden Theorien, das Aufzählen von berühmten Eastereggs oder sonstigen Spielegimmicks oder das schwelgen in "Alles war besser"-Mentalität seitens Nick. Der Erzähler macht zwar auch gerne mal mit und mischt seinen Senf bei, aber Nick ist die eigentliche große Kraft im Nerd-Gespann. Ich war beim Lesen zumindest froh, dass ich teilweise zur Zielgruppe gehörte und verstand, worum es geht. Um das Buch genießen zu können, sollte man zumindest zwei der drei folgenden Voraussetzungen erfüllen: a) vor den 80ern geboren sein, b) Informatiker sein, c) von Kind auf Zocker sein.
Wer das nicht schafft, der wird zwar immer noch Spaß an der Erzählweise finden und durch die häufig sehr ausgeladenen Beschreibungen mit "Wie war das noch?"-Auftakt zwar immer noch auf seine Kosten kommen, aber ich kann mir gut vorstellen, dass die ein oder andere Anspielung dann doch mal verfehlt. Aber so ist das eben bei Geschichten mit vielen Popkultur-Referenzen, seien sie modern oder nicht - jeder fällt irgendwann mal durch's Sieb:

"Raschelnd läuft die Scheibe an und spuckt das Inhaltsverzeichnis aus. Barbarian ist drauf, ein guter Start. Wir laden wahllos eine Datei, die so aussieht, als könnte sie das Schwertduell enthalten. Unweigerlich kommt mir der alte Kalauer in den Sinn: "God save the Queen, 8, 1". Keiner, der nach 1975 geboren wurde, hat auch nur die leiseste Chance, den zu verstehen."

Und während die Beiden ihren Trip durchleben, wird doch schon das ein oder andere mal ein existenzialistischer Schlenker gemacht, der das Älterwerden, das Erwachsenwerden (definitiv unterschiedliche Dinge!), Kindheitsträume, das Woher und das Wohin behandelt ohne auf die absolute Tränendrüse zu drücken - schließlich geben sich die Protagonisten ja männlich! Aber für einige zum Nachdenken anstoßende Beschreibungen einer Quarterlife-Crisis reicht's dann doch noch:

"Doch was noch viel schlimmer ist: Man braucht uns anscheinend nicht mal mehr. In letzter Zeit beobachten wir immer häufiger, dass Kollegen mit Computersorgen bei den jungen Praktikanten unten in der Produktion anklopfen. So nervig es sein kann, Helpdesk zu spielen - das trifft einen doch irgendwie. Ein Nerd, der nicht mehr nach IT-Rat gefragt wird, hat seine Daseinsberechtigung verloren."

Aber was ist nun eigentlich mit dieser geheimen Nachricht in diesem Spiel? Nun, die rückt in den Hintergrund und nimmt brav den Platz des kleinen, roten Fadens ein. Wer hier auf einen Agenten-Thriller mit ganz viel H4XX0R-Deutsch hofft, wird gnadenlos enttäuscht, denn außer hier mal einen komischen Lochstreifen in einen Din A4-Scanner zu legen oder da den Kommandozeiger auf den Beginn des Programmes zu schieben - oder die Suche nach einem Emulator eines alten Rechnermodells im Internet - passiert nicht viel Spannendes. Man könnte sagen: Die meiste Zeit über ist das Buch in einem Zustand der Fast-Spannung. Ab und zu passiert etwas und das ist tatsächlich spannend, aber nur weil man nicht wirklich weiß, was eigentlich los ist. Als Vergleich könnte man da wohl den Adrenalinrausch nennen, wenn man zum ersten Mal beim Kiosk ein Stück Naschi hat mitgehen lassen (nicht, dass ich das je getan hätte!). Das Abenteuer ist zum Großteil im Kopf der Protagonisten.

Ob es nun aber ein Fast-Abenteuer bleibt oder sich als richtiges entpuppt, der muss schon selbst nachlesen. Ich kann Extraleben auf jeden Fall allen Informatikern, Alt-Zockern AND/OR Ü30-jährigen empfehlen. Und wer Extraleben schon geschmeckt hat, der kann hier freudig meinen Artikel über die Fortsetzung, Der Bug, erwarten. Rian

Kommentare

Rian
26. November 2010 um 17:56 Uhr (#1)
Man möge mir die falsche Benutzung von AND/OR verzeihen, aber es hat mich so hingerissen!
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26. April 2024 um 06:50 Uhr
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