Twin Mirror Review

(Artikel)
Benjamin Strobel, 14. Dezember 2020

Twin Mirror Review

Ich will kein Arschloch sein um die Wahrheit zu finden

Mit Life is Strange haben Dontnod sich einen Namen gemacht, dem ein guter Ruf vorauseilt. Ihr neuestes Spiel entfernt sich jedoch von den Wurzeln früherer Titel: Twin Mirror ist kein Coming of Age Drama mit übernatürlichen Elementen, sondern ein düsterer Thriller. Ob ihr neuestes Werk mit früheren Erfolgen Schritt halten kann, erfahrt ihr in diesem Review.

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Sam zurück in Basswood | Bild: Dontnod

Twin Mirror erzählt aus dem Leben des Investigativjournalisten Sam. Nach vielen Jahren kehrt er in seine Heimat Basswood zurück, eine Kleinstadt in West Virginia. Dort muss er sich nicht nur seiner Vergangenheit stellen, sondern auch einem Mordfall, für den er selbst ins Fadenkreuz gerät. Das Spielprinzip des Adventures folgt dabei den bekannten Konventionen. In der Rolle von Sam könnt ihr euch mit anderen Figuren unterhalten und müsst mitunter Entscheidungen dabei treffen, die den weiteren Spielverlauf beeinflussen. Hin und wieder gibt es kleine Rätselaufgaben, bei denen ihr Gegenstände finden oder sinnvolle Schlüsse ziehen müsst. Und dann gibt es noch zwei Besonderheiten.

Der Dualismus von Twin Mirror
Zwar hat Sam keine übernatürlichen Fähigkeiten, aber in seinem Kopf geht es alles andere als gewöhnlich zu. Es gibt genau zwei Dinge, die von der Norm erheblich abweichen: zum einen kann er seinen inneren Mind Palace betreten. Während der Gedächtnispalast eine real existierende Erinnerungstechnik ist, um eine große Menge von Inhalten zu strukturieren und im Kopf zu behalten, sieht das Spielkonzept etwas anders aus. Sam kann die Augen schließen und seinen inneren Palast dazu nutzen, Situationen zu analysieren, daraus logische Schlüsse abzuleiten oder alle denkbaren Ausgänge eines Szenarios durchspielen. Ein großer Teil der spielerischen Rätsel spielt sich im Mind Palace ab, in dem man beispielsweise einen Tathergang rekonstruiert, indem man die richtigen Hinweise miteinander kombiniert und Rückschlüsse über das Geschehen daraus ableitet. Die Mechanik ist außerdem mit einer Charakterisierung der Figur verbunden, wie wir sie aus Sherlock Holmes oder - etwas moderner - Dr. House kennen: Sam zeigt sich in diesen Sequenzen den Gesetzen der Logik verbunden und strebt in erster Linie nach Wahrheit. Im Gegenzug, so geht das Trope weiter, ist er sozial unbeholfen, manchmal verhält er sich regelrecht wie ein Arschloch. Alles für die Wahrheit.

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Dialoge sind ein wichtiger Teil von Twin Mirror | Bild: Dontnod

Demgegenüber steht ein zweiter Quirk, der zwar völlig anders, aber ebenso besonders ist. In seinem Kopf begleitet ihn ein imaginärer Freund: das Double, das äußerlich einige Ähnlichkeit mit Sam besitzt und deshalb auch als Facette seiner Persönlichkeit gelesen werden kann, die er auf diese Weise externalisiert und von sich abgespalten hat. Ob das Double ihm bei den Ermittlungen hilft oder behindert, ist nicht immer ganz klar. Der Freund im Kopf repräsentiert ein gänzlich anderes Prinzip als Mind Palace: das soziale Miteinander. Wenn Sam droht, in kühle Analysen abzudriften, erinnert das Double ihn daran, wie wichtig Freunde und da soziale Leben sind. Er glaubt, dass man die Wahrheit nicht um jeden Preis erkämpfen sollte. Stattdessen könnte man auf sich und andere Acht geben, das soziale Miteinander in den Vordergrund stellen, glücklich werden.

Wie sich auch in Interviews gezeigt hat, ist diese Gegenüberstellung ganz im Sinne der Entwickler:innen. Auf diesen Dualismus verweist bereits der Titel des Spiels. Und je nachdem, was ihr selbst wichtig findet, können die Entscheidungen wirklich schwierig werden: Verratet ihr dem Kind des verstorbenen Vaters den Stand eurer Ermittlungen? Oder haltet ihr Informationen zurück, um das Mädchen nicht zu verstören? Nutzt ihr die Beerdigung eures verstorbenen Freundes, um Gästen zu befragen? Oder verzichtet ihr auf Informationen aber wahrt dafür den Anstand? Nicht immer ist ganz klar, was der richtige Weg ist. Beide Aspekte und die Spielprinzipien dahinter sind interessant. Der Mind Palace ist ein interaktives Werkzeug zum Rätseln und das Double macht Gespräche mit anderen Figuren interessanter - sollte ich seine Hinweise aufgreifen? Brauche ich seine Hilfe oder kann ich eine Situation auch alleine meistern?

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Weiß das Double, was gut für uns ist? | Bild: Dontnod

Keine Synthese
Leider nutzt Twin Mirror seinen Dualismus, um beide Prinzipien gegeneinander auszuspielen. Streben nach Wahrheit und soziale Verträglichkeit werden auf gegenüberliegende Enden einer Skala gezwängt - das macht die Dualität zu einer Polarität. Das heißt, die Wahrheit zu suchen, bedeutet soziale Ziele aufzugeben. Und wer sozialverträglich ist, kann nicht zugleich das Rätsel lösen. Ein Mittelweg ist im Dualismus nicht vorgesehen. Schwarz oder weiß, ja oder nein, sozial oder wahrheitstreu.

Um diese Polarität aufrechtzuerhalten muss Twin Mirror seine Szenarien mitunter unangenehm zurechtbiegen. So gelangt Sam in seinem Mind Palace zu der Einsicht, dass die einzige Möglichkeit, ein paar Menschen kurz ablenken, diejenige ist, ein Feuer zu entzünden und dadurch einen brand zu riskieren. Davon abgesehen, dass mir das nicht wie eine von unfehlbarer Logik geleitete Idee vorkommt, lassen Passagen wie diese Mittelwege und eine Vielzahl denkbarer Alternativen vermissen. Dass man nicht zur Wahrheit kommen kann ohne gleichzeitig ein Arschloch zu sein ist doch irgendwie eine blöde Geschichte. Besonders, wenn alternative Verhaltensweisen den Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms all zu leicht in den Sinn kommen.

Fazit
Spielerisch ist Twin Mirror nicht weit von seinen spirituellen Vorläufern entfernt. Es gibt gute Dialoge mit tollen Sprecher:innen und einige Nebenfiguren sind mehr als nur Pappaufsteller. Aber das Korsett der Dualität, der Polarität, nagt an den erzählerischen Möglichkeiten des Spiels, macht es mitunter unglaubhaft und frustrierend. Ich will kein Arschloch sein, um die Wahrheit zu finden. Aber ich muss - und das ist schade.

Twin Mirror wurde auf der Xbox Series X getestet. Ein Testmuster wurde uns von Dontnod zur Verfügung gestellt.

Twin Mirror

(Ranking)
B
RANK
Anständig. Stärken und Schwächen halten sich die Waage. Positive Überraschungen sind genauso selten wie negative. Unterm Strich muss man seine Spielzeit keinesfalls bereuen.

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29. März 2024 um 00:22 Uhr
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