Watch Dogs: Legion Review

(Artikel)
Benjamin Strobel, 06. November 2020

Watch Dogs: Legion Review

Prozedurale Protagonist:innen im virtuellen London

Watch Dogs: Legion schlägt eine neue Kerbe in die bekannte Open-World-Formel: anstatt durch die Größe der Spielwelt zu überzeugen, setzt Ubisofts neuester Titel auf unbegrenzten Nachschub an Spielfiguren. Im Widerstand gegen ein paramilitärisch besetztes London rekrutiert ihr ein Team prozedural generierter Agentinnen und Agenten. Wie das gelingt, lest ihr hier.

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Welcome to London
Buckingham Palace, das London Eye, die Tower Bridge, Big Ben oder das British Museum - sie alle sind weltbekannte Sehenswürdigkeiten, die ihr in Watch Dogs: Legion virtuell besichtigen könnt. Nur ein Problem gibt es da: nach einem Terroranschlag von einem mysteriösen Superhacker ist die Stadt vom Militärkonzern Albion besetzt, was das organisierte Verbrechen allerdings nicht an Menschen- und Organhandel hindert. Bevor ihr also an Tourismus denken dürft, geht es in den Widerstand und gegen das Verbrechen. Dazu rekrutiert ihr neue Agentinnen und Agenten in die Hacker-Gruppe DedSec und startet eine kleine Revolution.

Nach The Division 2 und Far Cry 5 muss man langsam denken, Ubisofts Studios preschen gern ins Territorium explizit politischer Themen vor. Aber auch hier müsst ihr euch keine allzu großen Sorgen machen: Watch Dogs: Legion wirft zwar interessante Frage über Datenschutz, digitale Technologien und zivilen Widerstand auf, tritt bei den Antworten aber deutlich kürzer. Schade!

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Prozedurale Protagonist:innen
Technisch und spielerisch ist Watch Dogs: Legion interessant. Im virtuellen London der nahen Zukunft gibt es keine Non-Playable Characters. Jede Figur, die ihr auf den Straßen Londons seht, ist spielbar. Ihr könnt euch in ihre Smartphones hacken, um ihre Namen, Jobs und andere Hintergründe zu erfahren. Außerdem zeigt euch der Hack die besonderen Fähigkeiten der potenziellen Rekrutinnen und Rekruten an. Man kann hier viel Liebe zum Detail finden, beispielsweise erfährt man, ob eine Figur schwul oder asexuell ist, welche Restaurants sie online rezensiert oder warum sie Hausverbot im Zoo hat. Leider treten die spannenden Quirks der Figuren vor ihren Fähigkeiten schnell in den Hintergrund, denn hauptsächlich letztere bestimmen, wie sich die Figur spielt.

Um eine Figur zu rekrutieren und spielbar zu machen, sprecht ihr sie einfach an. Dann zieht das Spiel eine zufallsgenerierte Mission aus seinem Hut und wenn ihr sie erfolgreich beendet, schließt die Figur sich euch an. Simpel!

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Nahezu jedes Berufsbild birgt eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ein Banker bekommt mehr Geld, das ihr für Kleidung und Skins ausgeben könnt. Obdachlose können hingegen um Geld betteln. Das Auto eines Geheimagenten kann sich tarnen und Raketen abfeuern. Und wenn ihr eine Bauarbeiterin seid, bekommt ihr freien Zutritt zu Baustellen. Dieses System funktioniert ganz ähnlich wie bei Hitman: mit der passenden Berufsbekleidung könnt ihr euch durch Areale bewegen, die ansonsten Sperrzone sind. Aber wenn ihr komisch herumklettert, Waffen zückt oder zu nah am echten Personal steht, fliegt eure Deckung auf und ihr müsst kämpfen.

Der Algorithmus des Spiels bringt insgesamt ganz überzeugende Figuren hervor. Es gibt eine große Vielfalt an Ethnien, unzählige Kleidungsstücke und einen breiten Bausatz unterschiedlicher Sprecherinnen und Sprecher. Um noch mehr Varianz herauszuholen, variiert das Spiel auch die Tonhöhe der Stimmen. Das ist für mich der einzige technische Punkt, der zu Kritik einlädt, denn mitunter kommen seltsam künstliche Stimmen dabei heraus. Fernab davon kann ich die Figuren echt einkaufen - eine beachtliche Leistung!

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Weniger Icons auf der Map
Ein anderer wichtiger Kniff von Legion ist eine kleine Überarbeitung der überdehnten Open-World-Formel. Endlich werden wir nicht mehr mit Icons überschüttet, die sich wie bunte Smarties über die Karte legen und sie in den schlimmsten Fällen nahezu begraben. Zwar ist London übersäht von den berühmten Ubisoft-Banditencamps, sie werden allerdings nicht als Missionsziel auf der Karte angezeigt. Es gibt auch nur zwei wirklich gute Grunde, diese Camps zu besuchen: Entweder, weil euch eine Mission zu ihnen führt oder weil ihr die Tech Points sammeln wollt, die in jedem Lager auf euch warten.

Tech Points ist eine optionale Währung, mit der ihr Gadgets freischalten und aufbessern könnt. Beispielsweise könnt ihr lernen, Kampfdrohnen zu hacken, verschiedene Schockwaffen freischalten und Gadgets kaufen, wie zum Beispiel den Spinnenroboter und die Tarnvorrichtung, mit der ihr vorübergehend unsichtbar werdet. Mit jeder Figur könnt ihr zwei Waffen und ein Gadget ausrüsten und außerhalb von Kämpfen jederzeit wechseln.

Die Lager selbst sind unterschiedlich groß und komplex, aber alle nach den gleichen Prinzipien aufgebaut. Ihr könnt euch in Drohnen und Kameras hacken, um die Umgebung zu erkunden, Gegner zu markieren und geeignete Wege zu entdecken. Mitunter müsst ihr Sicherheitsschranken umgehen oder deaktivieren, den Strom einschalten, Sicherheitsschlüssel hacken, oder kleine Puzzle lösen, um Zugang zu relevanten Bereichen zu bekommen. Überall laufen Wachen Streife, die euch bei Kontakt angreifen oder Verstärkung rufen. Entweder ihr türmt dann und wartet ab, bis der Alarm eingestellt wird oder ihr greift zu den Waffen und ballert euch durch - die solide Kost eines typischen Actions-Adventures mit einem kleinen Hacking-Twist.

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Hüpfende Spinnenroboter
Viele Orte in Watch Dogs: Legion könnt ihr nur mit Spinnenrobotern erkunden. Diese kleinen Freunde gehören zur Standardausstattung von DedSec und können mit jeder Figur ausgerüstet werden. Anatomisch korrekt sind die Robospinnen mit sechs Beinen zwar nicht, doch sie können sich durch allerhand Schächte und Öffnungen zwängen, in die selbst Solid Snake nicht passen würde.

Manchmal könnt ihr auf diese Weise Abkürzungen erschließen, viele Areale können aber ausschließlich von Spinnenbeinen betreten werden. Das hat die Entwicklerinnen und Entwickler dazu veranlasst, eine gute Portion Platforming in Legion zu schleusen. Während die Agentinnen und Agenten von Dedsec keinen müden Hüpfer machen und sich allenfalls über hüfthohe Hindernisse schleppen, kann euer Spinnenroboter mit Upgrade sogar zum Doppelsprung ansetzen. Mal müsst ihr durch die Kanalisation krabbeln ohne dabei ins Wasser zu fallen, in einer anderen Mission erklimmt ihr mit der Spinne einen Uhrenturm wie Super Mario in Tick Tack Trauma.

Spinnenroboter sind ein schönes Spielelement, weil sie sich ganz anders spielen als die menschlichen Spielfiguren. Ihr seid klein und sehr mobil, könnt zwar keine Leitern hochklettern, dafür aber durch Schächte krabbeln. Die Platforming-Parcours sind eine gelungene Abwechslung zum Laufen und Fahren durch London, das hauptsächlich in der Fläche stattfindet. Leider sind die meisten Sprungpassagen nicht sehr herausfordernd, auch wenn Kulissen wie der Uhrenturm sehr eindrücklich sind.

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Nicht ganz ausgeglichen
Spielt man Watch Dogs: Legion eine Weile, kristallisieren sich dominante Strategien heraus. Einige Fähigkeiten sind fast immer nützlich, andere fast nie. Und dann gibt es solche, mit denen man das halbe Spiel umgehen kann - das kann sich bei den ersten Malen mächtig anfühlen, wird aber schnell langweilig.

Das beste Beispiel dafür sind Lastendrohnen. Mit einer Lastendrohne könnt ihr euren Agenten einsammeln und an nahezu jeden Ort transportieren. Habt ihr nur genug Zeit, könnt ihr darauf vom einen Ende Londons bis zum anderen fliegen ohne abzusetzen. Einen guten Teil der Rätsel und Wege durch die Albion-Camps könnt ihr dadurch einfach umgehen. Da kann euch egal sein, ob da ein Tor ist, das gerade keinen Strom hat. Eine Pforte, für die ihr erst eine Schlüsselkarten hacken müsstet, ignoriert ihr einfach. Über die Köpfe der patrouillierenden Wachen gleitet ihr mühelos hinweg! Nur wenn ihr in einen Keller gehen müsst, werft ihr eben einen Spinnenroboter ab, der die letzten Meter für euch krabbelt.

Jetzt sagt ihr, naja, so eine Lastendrone muss man erstmal finden, die gibt es schließlich nicht überall. Richtig! Aber wenn ihr Bauarbeiter:innen rekrutiert, könnt ihr mit ihnen nicht nur unbehelligt über Baustellen streifen, sondern auch jederzeit eine Lasendrohne zu euch bestellen wie eine billige Pizza.

Es ist nicht nur schade, dass man auf diesem Wege Design und Architektur der Missionsgebiete völlig verpasst. Man hebelt dabei auch die Spielprinzipien aus, die eine Mission sonst ausgemacht hätten. Das ist so als hätte man euch ein Labyrinth aufgemalt, dessen Wege ihr mit einem Stift ablaufen sollt. Aber dann bekommt ihr die Möglichkeit, mit dem Stift einfach eine gerade Linie zum Ausgang zu malen, quer durch alle Mauern als wären sie nicht da. Eine Labyrinth ohne Mauern ist am Ende eben keins - und verliert seinen ganzen Reiz.

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Fazit
Kameras, Drohnen, Spinnenroboter - manchmal muss man mit der Spielfigur nicht einen Fuß ins Missionsgebiet setzen, um Aufgaben in Watch Dogs: Legion abzuschließen. Das schafft eine interessante Aussage über die Spielwelt - und über unsere: digitale Technologien lassen uns physische Grenzen so leicht überwinden wie noch nie. Die Fantasie scheint authentisch-greifbar, ist aber reizvoll genug, um das Spiel zu tragen. Leider sind einige Technologien einfach zu mächtig, um Legion durchweg interessant zu halten. Sind die Mauern des Spiel-Labyrinths einmal eingerissen, will man nicht mehr hilfloses Mäuschen spielen, sondern beutet die mächtigen Instrumente nur allzu gern aus. Stellenweise trivialisiert sich Legion dadurch aber selbst.

Zwischen all den digitalen Technologien sind die prozedural generierten Protagonisten das innovative Herzstück des Spiels. Ihr könnt aus einem schier endlosen Pool immer neuer Figuren nahezu frei auswählen. So ist Watch Dogs: Legion sehr gut darin, euch Offenheit und Autonomie zu vermitteln. Hat man ein Auge dafür, lassen sich zwischen dem Schleichen, Schießen und Hacken ganz individuelle Geschichten entdecken.

Watch Dogs: Legion wurde auf der Xbox One X getestet. Ein Testmuster wurde uns von Ubisoft zur Verfügung gestellt.

Watch Dogs: Legion

(Ranking)
A
RANK
Reife Leistung. A-Spiele machen alles richtig oder sind nah dran. Kleine Schwächen werden durch Stärken mehr als wett gemacht. Das ist Spieldesign auf hohem Niveau.

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