Draugen Review

(Artikel)
Merle B., 28. Juni 2019

Draugen Review

Insel-Krimi mit skandinavischem Charme

Wer dieses Jahr noch keinen Skandinavienurlaub hatte, kann jetzt aufatmen! Denn Draugen nimmt einen zumindest für ein paar Stunden mit auf eine verwunschen schöne Insel in Norwegen. Allerdings gilt es hier nicht (nur), die Landschaft zu bewundern, sondern auch, einer Tragödie auf den Grund zu gehen, die ein ganzes Dorf heimgesucht hat.

Das Jahr ist 1923 und der amerikanische Edward Harden und seine Begleiterin Alice legen mit einem Ruderboot an einer norwegischen Insel an. Edwards Mission ist es, seine Schwester Elizabeth zu finden, welche zuvor als Journalistin durch die Welt reiste, jedoch seit einiger Zeit als vermisst gilt. Ihre letzten Spuren führten ins Fischerdorf Graavik. Doch irgendwas scheint nicht zu stimmen, denn Edward und Alice finden das Haus ihrer Gastgeber verlassen vor, eine Flagge auf Halbmast lässt Schlimmes ahnen. Und, wie sich nach einer stürmischen Nacht herausstellt, gilt dies für die ganze Insel – keine Menschenseele ist mehr aufzufinden. Nun ist es an uns, die Spuren von Gewalt, Lokalgeschichte und womöglich sogar übernatürlichen Kräften zu interpretieren, die uns in Graavik erwarten.

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Erkundungstour mit Noir-Flavour
Die Spurensuche mit Edward und Alice verläuft recht typisch für ein Exploration Game. Wir durchstöbern Zimmer, lesen Briefe, betrachten Bilder – und machen ab und zu Pause, um ein Bild zu zeichnen, denn nicht nur wir, sondern auch unser Protagonist ist sehr beeindruckt von der märchenhaften Umgebung. Diese Idylle wird jedoch stets gebrochen von den unsagbaren Dingen, die sich an diesem Ort zugetragen haben. So hat die Atmoshäre des Spiels auch einen gewissen Noir-Flavour.

An Edwards Seite befindet sich seine Begleiterin Alice, deren fröhlich frechen Kommentare den Kontrast zu Edwards melancholisch-ruhigen Art bilden. Die Wortgeplänkel der beiden lockern die morbide Stimmung auf der Insel auf und sorgen für Abwechslung. Ab und zu driftet die Dynamik der beiden jedoch stark ins Manic-Pixie-Dream-Girl-Territorium ab und wie sehr man die Dialoge der beiden genießt, ist maßgeblich davon abhängig, ob man dieses Trope mag. Doch im Verlauf des Spiels wirft auch Alices Identität neue Fragen auf – die kindlich-kecke Begleiterin ist womöglich mehr (oder weniger?) als sie zu sein scheint.

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Rätsel und Mysterien
Neben der offensichtlichen Suche nach der Schwester und dem Mysterium der Insel gibt einem auch der Protagonist selbst Rätsel auf. Neben der Außenwelt muss nämlich auch Edwards Innenwelt erforscht und aufgeklärt werden. Die Erkundung der Familiengeschichten auf der Insel löst auch Erinnerungen an seine eigene Familie aus und die Kriminalgeschichte tritt zwischenzeitlich zugunsten eines psychologischen Twists in den Hintergrund. Mit der immer heftigeren Eskalation der Handlung verschwimmen auch die Grenzen zwischen außen und innen, natürlich und übernatürlich, und die eigentliche Frage, die es zu beantworten gilt, ist plötzlich: Was ist eigentlich real? Komplett nahtlos fügen sich die Geschichte der Insel und die persönliche Geschichte Edwards zwar nicht ineinander – dafür hätte es eventuell mehr Zeit gebraucht – doch packend ist es auf jeden Fall.

In Sachen Spurensuche hat Draugen eine ausgesprochen gelungene Balance, was die Hinweise angeht, die es zu sammeln gilt. Die zentralen Wissenshäppchen werden einem nach einer Weile zwar so oder so zugespielt, doch als richtige Spürnase ist man fast nicht darauf angewiesen. Denn wer bei Draugen gut aufpasst, die Details beachtet und interpretiert und idealerweise auch ein Händchen für Fremdsprachen hat, hat schnell einen Wissensvorsprung. Wir sind daran gewöhnt, dass uns Spiele das Gefühl geben, stark und mächtig zu sein, aber Draugen schafft es, dass man sich zur Abwechslung mal wirklich clever fühlt. An vereinzelten Stellen wirkt das Spiel vielleicht sogar etwas zu einfach und es gibt ab und zu einen klitzekleinen Hang zum Übererklären, doch in den meisten Fällen ist das Rätseln genau richtig und lässt einen nicht los.

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Kein Schubladenschock
Zu erwähnen ist außerdem, dass die Spurensuche in Räumen relativ sparsam gestaltet ist – wer also noch einen Schubladenschock von Gone Home hat, braucht sich hier keine Sorgen zu machen. Das Erkunden von Räumen verfolgt hier nämlich hauptsächlich einen anderen Zweck als Charakterisierung: wir lernen die Figuren nicht dadurch kennen, dass wir ihre persönlichen Assoziationen zu herumliegenden Tennissocken in Erfahrung bringen, sondern wir wollen einen Kriminalfall lösen. Es geht mehr darum, Zusammenhänge zwischen vergleichsweise wenigen Hinweisen herzustellen, als einfach nur möglichst viel zu entdecken. So fühlt sich das Spiel auch ziemlich dynamisch an. Man hängt nie allzu lang an einem Ort fest, sondern wird stets von der Handlung weitergetragen. Wir arbeiten uns immer tiefer in die Vorgeschichte der Insel ein – und in die Vorgeschichte der Hauptfigur – und so wird es auch immer schwieriger, das Spiel aus der Hand zu legen. Gott sei Dank muss man das auch nicht zwangsläufig, denn mit etwa drei Stunden Spielzeit lässt sich Draugen durchaus auch in einer Sitzung durchspielen.

Was mir persönlich besonders viel Freude bereitet hat, waren die Häppchen der norwegischen Sprache, die einem im Laufe des Spiels beigebracht werden. Denn die Briefe, Dokumente, Schilder und Beschriftungen im Spiel sind selbstverständlich auf Norwegisch verfasst. Das wichtigste davon kann Edward meist übersetzen, doch auch hier ist es eine besondere Freude, wenn man sich etwa die Beschriftung einer Tür selbst erschließen kann, bevor Edward es schafft. Auch aus Briefen und Büchern kann man weitere Details entnehmen, wenn man sich, statt auf die grobe Übersetzung des Protagonisten zu vertrauen, die Zeit nimmt, sich den Text selbst anzuschauen und ein paar Vokabeln zu entschlüsseln. Diese linguistische Komponente der Spurensuche war für mich ein kleines Highlight und es wäre großartig, dieses Element in noch viel mehr Spielen zu sehen.

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Malerischer Inselflair
Ein nachdrückliches Lob muss für die wunderschöne und hochwertige Gestaltung der Insel ausgesprochen werden. Die malerischen Frühherbstlandschaften versprühen Horizon: Zero Dawn-Vibes und laden dazu ein, immer wieder innezuhalten und die Aussicht zu genießen. So vergisst man auch schnell, dass man „nur“ in einem kleinen Indie Spiel ist, und gibt sich mit Leichtigkeit der Illusion hin, dass in dieser Welt eigentlich alles möglich ist. Das ist auch gut so, denn um sich dem Spiel vollends hingeben zu können, sollte man lieber nicht zu viel über die Konventionen und Restriktionen des Genres nachdenken.

Insgesamt ist Draugen ein absolut lohnendes Spiel für Fans starker Narrativen und ausdrucksstarker Umgebungen. Es erinnert sowohl in seinem narrativen Aufbau als auch in seinem Gameplay an Firewatch, macht aber doch sein ganz eigenes Ding – und vor allem sein eigenes Setting. Während uns Firewatch in einen Nationalforst der USA mitnahm, liefert uns Draugen authentisch norwegischen Inselflair. Ich persönlich könnte mit Spielen dieser Art noch hunderte von Orten erforschen, ohne dass mir langweilig würde. Und da habe ich Glück, denn das Ende von Draugen deutet an, dass dieses Abenteuer noch nicht das letzte war und womöglich gar mit einem Sequel zu rechnen ist.

Draugen wurde auf dem PC via Steam getestet. Ein Testmuster wurde uns von Red Thread Games zur Verfügung gestellt.

Draugen

(Ranking)
A
RANK
Reife Leistung. A-Spiele machen alles richtig oder sind nah dran. Kleine Schwächen werden durch Stärken mehr als wett gemacht. Das ist Spieldesign auf hohem Niveau.

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RELEASE
29. Mai 2019
PLATTFORM
PC
Plattform - PC-Spiele haben mit die älteste Tradition. Heutzutage laufen die meisten Games unter dem Microsoft Windows.

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