Divinity: Original Sin 2 im Test

(Artikel)
Rian Voß, 04. Oktober 2017

Divinity: Original Sin 2 im Test

Das bessere beste Rollenspiel

2017 ist ein verdammt gruseliges Jahr. Also, jetzt nicht wegen des drohenden Atomkriegs, drohenden amerikanischen Rassenkriegen oder wegen einer Alternative für die CSU. Gruselig, weil Divinity: Original Sin 2 schon die zweite Fortsetzung zu einem meiner vergangenen Game-of-the-Year-Nominierungen ist! Die erste war Nidhogg mit Nidhogg 2, die zweite - offensichtlich - Divinity: Original Sin. Und wenn das steil so weitergeht, kommt dieses Jahr auch noch Shenmue 3 raus! Das wird aber wahrscheinlich nicht so gut wie Divinity: Original Sin 2.


Divinity: Original Sin gehörte für mich zu den besten klassischen CRPGs seit Beginn der Zeitrechnung - und ich habe Planescape: Torment und die Baldur's Gates gespielt! CRPG ist ein inzwischen recht schlecht gealterter Begriff für virtuelle Rollenspiele im westlichen Stil. Wenn ich aber "West-RPG" sage, werde ich auch nur doof angeguckt und gefragt, was ich denn damit meine. Sollte doch eigentlich ganz logisch sein: Japanische RPGs heißen JRPG, also ist das mit dem WRPG jetzt ja wohl gar nicht so weit hergeholt. Und im Gegensatz zu einem JRPG kommen Divinity: Original Sin und sein Nachfolger auch ziemlich nah an die Freiheit des Pen-and-Paper-Vorbilds heran.

(Fast) Grenzenlose Möglichkeiten
Divinity: Original Sin 2 ist ein Sandkasten. Nicht im Bottom-Up-Sinne von Minecraft, wo man sich aus den elementaren Bausteinen des Universums seine eigenen Schöpfungen formt, sondern im Top-Down-Sinne. Man wird vor Probleme gestellt und es liegt am Spieler, eine Lösung zu finden. Oft ist eine dieser möglichen Lösungen "Hau jemandem das Gesicht ein, bis der Maus-Tooltip nicht mehr 'Gesicht' sondern 'Matsche' anzeigt." Aber kreative Spieler können sich hier ziemlich austoben.

divinity-battleEs ist kein richtiger Kampf, wenn nicht das halbe Schlachtfeld brennt und die andere Hälfte unter Strom steht.

Mein Lieblingsbeispiel ist Folgendes: Das Spiel beginnt, nach einem kurzen Tutorial auf einem Gefangenenschiff, in der Gefängniskolonie Fort Joy. Im Gegensatz zum Namen geht es da gar nicht mal so fröhlich zu, denn dort werden eingesackte Magier einfach so gefangengehalten, ihrer Fähigkeiten kastriert und sie dürfen ihr Dasein fristen, bis sie von der Magie ("Source") "geheilt" werden. "Geheilten" Magiern muss es echt gut gehen, denn die kommen nie wieder und man hört auch nichts mehr von ihnen!

Jedenfalls kommt man in dieses Lager und kann eine Weile herumstreifen. Irgendwann schnappt man auf, dass der Chef seine Butze direkt oberhalb des Eingangs zum Aufseherviertel des Forts hat. Der Balkon ragt quasi in unsere Abteilung rein. Jetzt könnte man die Torwachen auseinander nehmen oder an ihnen vorbeischleichen, von einem Magister den Torschlüssel klauen oder das Tor aufbrechen oder das Schloss knacken. Man könnte sich am Vorgarten vorbeiwurschteln und mit seinen miffigen Level-1-Charakteren es irgendwie bis dorthin schaffen, um an die Schätze heranzukommen. Oder man findet einen Handschuh mit der Fähigkeit "Teleport". Die ist zwar eigentlich dazu gedacht, um Feinde in brenzlige Situationen (sprich: offenes Feuer, Giftgrube, Rudel hungriger Wölfe) zu bugsieren. Man kann aber so gut wie jeden Zauber auch auf seine Verbündeten oder die Umgebung wirken. Ich zaubere also unsere Diebin nach oben, sie klatscht unelegant auf den Balkon, bekommt ein bisschen Schaden, kickt die Leiter runter und wir sacken ungestört all den teuren Shit ein.

divinity-waypoint

Alles brennt!
Tatsächlich kann man auf diese Weise gut zehn Stunden Content überspringen, denn uns trennt nach diesem Einbruch nur noch ein einziger Kampf von unserer Flucht aus dem Gefängnis. Der Kampf wäre mit unseren Figuren zu diesem Zeitpunkt zwar schwierig, aber nicht unmöglich. So gut wie nichts in Divinity: Original Sin 2 ist unmöglich. Denn auch hier greift die Sandbox: Jede Fähigkeit im Repertoire, jedes Stück der Umgebung, alles kann einem zum Vorteil gereichen. Man kann Gegner gegeneinander aufhetzen, ihnen mit Ölfässern brennende Fallen stellen, sie auf einen Haufen teleportieren, in Hühner verwandeln, sie aus großer Höhe mit 100 Pfund schweren Gegenständen bewerfen, sich nach einem halben Kampf verdünnisieren, verstecken, sich heilen und erneut angreifen und vieles mehr. Gerade die Kombination von Fähigkeiten ist im rundenbasierten Kampf unglaublich wichtig. Das liegt nicht nur daran, dass Öl brennt und Wasser Strom leitet, sondern dass viele Fähigkeiten auch Nebeneffekte haben. Die meisten Kämpfe bieten auch ein gewisses Maß an Vertikalität, so dass man mit den Laufstrecken der Gegner taktieren kann und durch erhöhte Position sowohl mehr Schaden austeilt als auch weniger Schaden einsteckt. Im Großen und Ganzen ist das Kampfsystem von Divinity: Original Sin 2 enorm lebendig und mehrdimensional und das westliche Güte-Äquivalent zum östlichen gottgleichen Kampfsystem von Grandia.

Einzig manche Bugs in diesen Kämpfen, die auch mal über eine Stunde laufen können, sind etwas ärgerlich. Ich hatte es jetzt schon mehrfach, dass Fern- und Nahkampfangriffe vorbeigingen, als hätte ich in eine ganz andere Richtung gezielt. Auch der berühmte "Verklicker" liegt an der Tagesordnung - wenn auch nicht mehr so aufdringlich wie im ersten Teil. Dann bekommt halt mal der Feind die magische Rüstung statt meines daneben stehenden, sterbenden Kämpfers. Das sind aber nur Kleinigkeiten, die einem selten das Spiel vermiesen.

divinity-split-screenIhr könnt an einer Konsole oder einem PC mit Maus und Tastatur oder Controllern spielen. Oder bis zu vier Spielern online.

Kommen wir zurück zum Hühnerzauber der Polymorph-Schule. In der Theorie kann jede Figur alles erlernen, solange ihre Attribute stimmen. Und Voraussetzungen sind sehr leicht zu erfüllen. Ob die Figur dann auch GUT darin ist, was sie tut, steht auf einem anderen Blatt. Also, Hühnerzauber: Der verwandelt einen Gegner für zwei Runden in ein Huhn. Das klingt jetzt erst mal recht übertrieben gut. Natürlich klappt das nicht einfach so. Es gibt aber auch keine Trefferchance. Stattdessen wird dem Zauber durch physische Rüstung widerstanden. Wenn der Gegner durch ständiges Beharken mit physischen Angriffen seine gesamte Rüstung verloren hat, trifft der Hühnerzauber immer. Wenn er auch nur einen Fitzel übrig hat, verpufft der Zauber. Und so gut wie kein Gegner, dem man erst mal die Rüstung weggeschnatzt hat, hat eine natürliche Immunität gegen den Hühnerzauber. Ich habe Männer in Hühner verwandelt. Ich habe Wölfe in Hühner verwandelt. Ich habe mächtige untote Insekten-Avatare von Dämonengöttern, die zehnmal so groß sind wie mein Hauptcharakter, in Hühner verwandelt. Und dazu habe ich ihnen auch ganz viele Effekte verpasst, denen man analog mit magischer Rüstung widerstehen würde. Wer in einem Kampf keine Rüstung mehr hat, ist einfach nur gekniffen. Und danach meist ein Huhn. Und danach tot.

divinity-questlogDas da links ist übrigens meine Liste unerfüllter Nebenmissionen nach 70 Stunden Spielzeit.

Neue Perspektiven
Auch bei Story werden Freiheiten groß geschrieben. Jeder NPC hat etwas zu sagen, das Questlog zerbricht unter der Last von Nebenaufgaben. Dialogauswahl gibt es noch und nöcher, aber es ist auch sehr wichtig, wer mit wem redet. Natürlich ist die erste Intuition erst einmal, mit dem Protagonisten alle anzulabern. Der oder die Protagonistin (in meinem Fall eine untote Elfe. Ja. Untote Elfe. Jede Rasse von Rivellon kann man auch als wandelndes Skelett spielen, das Gift absorbiert, aber durch reguläre Heilung Schaden erleidet. Mit bisexuellen Aliens zu vögeln ist so 2010.) hat aber nicht alle Tags und nicht alle Attribute. Manchmal kommt man im Gespräch nur zu einem Erfolg, wenn eine Figur ein Wissenschaftler ist. Oder heldenhaft. Oder ein ganz bestimmter Partymitglied-NPC. Meine Protagonistin ist sehr geschickt, hat ein gutes Gedächtnis und sehr viele Punkte in "Überreden". Das war kein schöner Tag, als sich meine Optionen zum Umgehen eines Kampfes beim Überreden auf "Stärke", "Konstitution" und "Grips" beschränkten. Es ist also nicht so doof, auch mal mit anderen Figuren auf Charaktere zuzugehen. Das darf man oft sogar auch nach einem gescheiterten Versuch als "Wiederholung". Meistens bekommt man aber gar nicht mit, dass es auch einen anderen Weg gegeben hätte, da es selten "gute" und "schlechte" Ausgänge. Man bekommt dieselbe Erfahrungspunktebelohnung, wenn man sich aus einer Situation rauslabert, rauskämpft oder rausschleicht. Aber manchmal will man gar nicht mit der Silberzunge um massenmordende Sklavenhalter herum - manchmal will man durch sie hindurch.

divinity-elfeSchönste Elfe in Rivellon!

Unendliche Geschichte
Im Gegensatz zum ersten Teil, der ziemlich albern einsteigt und sofort komplett offen ist, zügelt sich der Nachfolger. Es gibt immer noch viele lustige Momente, diese dienen aber, um eine enorm ernste Grundgeschichte zu durchdringen. Im Anfangsgefängnis ist man nicht gerne, aber immerhin hat man ein klares Ziel vor Augen. Danach wird die Welt größer und man muss eine kleine Rebellion von Unterdrückten anführen, die hinter das schreckliche Geheimnis der "Heilung" gekommen sind. Nach etwa 30 Stunden kommt man dann zur zweiten Karte des Spiels. Hier öffnet sich alles noch einmal. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hingehen soll, und wenn man in der falschen Ecke sein Gesicht zeigt, ändert sich der Maus-Tooltip zu "Matsche". Und ab dieser Stelle geht die Welt merklich den Bach runter. Man landet an einer vergifteten Küste und läuft nach einigen Sekunden über den Schauplatz eines Gemetzels. Und das ist noch einer der freundlichsten Ausblicke. Glaubt ihr, ich hätte nach rund 70 Stunden das finale Kapitel des Spiels gesehen? Ich habe ihm noch nicht mal aus der Ferne zuwinken können!

divinity-undead-sexUnd dann war da die eine Stelle, wo meine beiden Skelette Sex hatten...

SO. VIEL. CONTENT.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr so recht, wie lange ich den Marathon noch durchhalten soll. Divinity: Original Sin 2 ist ein Gedicht. Es gibt so viel zu erwähnen und ich bin in diesem Review noch nicht mal dazu gekommen, die Musik zu loben. Habe ich schon erwähnt, dass sich der Soundtrack einem aus vier gewählten Instrumenten anpasst? Die Synchronsprecher sind auch hervorragend und bieten eine Vollvertonung (!). Wobei man beachten muss, dass die Texte sich an das Geschlecht der Figur (!!), meine Rasse (!!!) und ob ich lebendig oder untot bin (!!!!) anpassen. Die Stunden und Stunden an Dialog, die ich schon gehört habe, sind nur ein Bruchteil dessen, was auf meiner Festplatte schlummert.

Aber ich glaube, ich brauche eine Pause. Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber 70 Stunden Spielzeit sollten bei einem Rollenspiel für ein Review ausreichen. Ich bin gefühlt noch ewig weit vom Ziel entfernt und ich merke, wie ich beim Spielen einfach nur noch ungeduldig mit den Quests werde und lieber alles kurz und klein hacke anstatt nach einer intelligenten Lösung zu suchen. Und das wäre schade. Also insofern mein Fazit: Die ersten 70 Stunden von Divinity: Original Sin 2 sind super! Ich gehe mal nicht davon aus, dass die nächsten 70 Stunden sowie die darauf folgenden 100 Stunden replay mit Freunden im (bis zu) Vier-Spieler-Koop und alternativ dem selbst editierbaren Game-Master-Mode das noch kaputt machen könnten. Wenn euch also mindestens 70 Stunden fantastischer, intensiver, lustiger und trauriger Rollenspielspaß genügt, dann solltet ihr Divinity: Original Sin 2 nicht missen.

Ich muss jetzt erst mal was Dummes, Einfaches und Kurzes spielen gehen.

Divinity: Original Sin 2 wurde auf dem PC (Windows 10, AMD Ryzen 7 1700, Nvidia Geforce GTX 1080, 16 GByte RAM) getestet. Ein Testmuster inklusive Goodies (Figur, Artbooks, Stoffkarte) wurde uns von Larian zur Verfügung gestellt.

Divinity: Original Sin 2

(Ranking)
S
RANK
Herausragend. S-Spiele erweitern Horizonte. Sie bieten intensive Erlebnisse oder halten den Spieler noch lange am Bildschirm gefesselt. Selbst wenn man sie nicht jedem empfehlen kann, will man doch mit jedem über sie reden.

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19. April 2024 um 11:33 Uhr
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RELEASE
14. September 2017
PLATTFORM
PC
Plattform - PC-Spiele haben mit die älteste Tradition. Heutzutage laufen die meisten Games unter dem Microsoft Windows.

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