Torment: Tides of Numenera im Test

(Artikel)
Rian Voß, 20. März 2017

Torment: Tides of Numenera im Test

So retro, dass es weh tut

Planescape: Torment ist eines meiner liebsten Rollenspiele, wenn nicht sogar mein liebstes. Im Grunde sind es ein paar Dutzend Stunde aufeinanderfolgende Merkwürdigkeiten. Aber so ist das halt, wenn man unsterblich ist und mit drei Gefährten an einem Ort aufwacht, der alle zwei Meter eine Tür in eine neue Dimension hat - unter anderem auch in ein Labyrinth, das man selbst gebaut hat und das einen töten will.

Torment: Tides of Numenera ist der spirituelle Nachfolger dieses hochgelobten CRPGs. Auch Numenera basiert auf einem Tabletop-Rollenspielsystem. Auch Numenera ist weird ohne Ende. Auch in Numenera spielt man einen Unsterblichen oder eine Unsterbliche. Und stolpert alle naslang über fremde Welten. Und findet ein mysteriöses Labyrinth. Und hat drei Gefährten...

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Eine kleine Kunde zur Neunten Welt
Monte Cooks Rollenspiel findet in der Neunten Welt statt - einem Megakontinenten. Neunte Welt heißt sie, weil schon mindestens neun große Zivilisationen vor der Spielhandlung ihr intergalaktisches, transdimensionales, terraformendes Reich aufgebaut und wieder zunichte gemacht haben. Es könnten auch mehr gewesen sein. Wahrscheinlich waren es mehr. Jedenfalls sind wir nun ein moderner Erdenbewohner, ein paar millionen Jahre in der Zukunft.

Dass so viele Zivilisationen an der Erde herumgepfuscht haben, bedeutet eins: Technologie ist überall. Datengeister ploppen aus dem Nichts auf, tote Satelliten und Raumstationen umrunden die Welt in unerreichbaren Sphären und ein stetiges Dröhnen aus dem Erdkern ist für die Bewohner der Neunten Welt ganz normaler Alltag. Wahrscheinlich können sie am Ächzen hören, wie das Wetter morgen wird. Würde man einen Spaten in den Boden stechen, würde man damit nicht Erde, sondern wahrscheinlich zerschlagene und heruntergeriebene Maschinen ausheben, die zu neunzig Prozent noch funktionieren und irgendwas tun, aber keiner hat mehr eine Ahnung, was.

bloom

Etwas anschaulicher wird es noch bei den Nutzobjekten. Cypher, Artefakte oder Kuriositäten kommen in allen Formen und Farben. Ein Stab, der Blitze schießt, war vielleicht mal die Batterie eines Automaten. Einen Teleportationsgürtel hat jemand vielleicht aus Einzelteilen eines Fahrzeugs gefischt. Und wer sich eine seltsame Münze in die Nase schiebt, kann plötzlich die Gedanken seiner Gesprächspartner hören. Das sind die Numenera. Und sie sind überall.

Die Neunte Welt hat im Rollenspiel drei bekannte Gebiete: Den küstennahen Steadfast mit seinen Königreichen, das chaotische Beyond und die Clock of Kala, ein megalithischer Gebirgsring, in dessen Mitte Elfen wohnen. Tides of Numenera spielt im Beyond the Beyond, einem komplett neuen Gebiet. Nur für den Fall, dass ihr davon geträumt habt, den Bernstein-Monolithen in Navarene aus nächster Nähe zu sehen.

torment-genderHoffentlich hänge ich nicht stundenlang am Charaktereditor bei belanglosen Fragen fes--
...FFFFUUUUUUUUUUU!

Gott hat uns verlassen
Wir beginnen das Spiel im freien Fall über den Wolken. Und kurz danach - überraschend lebendig - in einer zerstörten Kammer. Zwei Reisende haben uns mit ihren Cyphers ziemlich den Arsch gerettet, aber nicht genug, als dass wir den Sturz hätten überleben sollen. Schnell wird ihnen klar: Wir sind ein Castoff, ein weggeschmissener Körper des Changing God. Der hat das Geheimnis der Unsterblichkeit erfahren und eine Methode gefunden, um nach freien Willen in andere Körper einzudringen und sie sein Eigen zu machen. Der unerwünschte Nebeneffekt ist, dass der Körper, den er zurücklässt, eine eigene Persönlichkeit formt.

Unsere weiteren Abenteuer sind im weitesten Sinne klassisches CRPG à la Baldur's Gate, Fallout oder eben Planescape: Torment: Man läuft herum, redet mit Leuten und ab und zu kämpft man. Und liest. Man liest sehr viel. Unsere Reise von der vielschichtigen Stadt Sagus Cliff in die übrigen Regionen Beyond des Beyond sind geflutet von Buchstaben. Alles hat Text. Gespräche sind Text. Zwischensequenzen sind Text. Objekte haben Text. Manche Objekte lassen sich benutzen, dann haben sie noch mehr Text.

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Das ist alles natürlich genau so gewünscht. Denn die Neunte Welt ist erwartungsgemäß gespickt mit quirligen NPCs und namenlosen Schrecken. Ein alter Zeitreisender, der mit seinem jüngeren Ich in einer Gärberei arbeitet und ihm das Handwerk beibringt, ist eher normal. Ein Portal, das Waisen in fremde Welten zu erwartungsfrohen Eltern schickt? Kennt man. Die Blinde, der wir einen parasitären Augapfel ins Gesicht stopfen und der sich dann selbstständig bis zum Sehnerv durchgräbt? Ach, pf. Und der Typ, der den unsterblichen Albtraum, der uns zu jeder Stunde verfolgt, in Stein meißeln möchte? Oh, da war ja was.

The Sorrow ist ein gigantisches Schattenmonster, das alles und jeden mit einem Schlag tötet und aus irgendeinem Grund hinter allen Castoffs hinterher ist. Besonders hinter uns. Na ja, nicht so wichtig, weiter im Text.

sorrow

Wie gesagt: Lesen. Ganz viel lesen. Nur nicht auf Deutsch. Die deutsche Übersetzung ist so schlecht, dass sie schon im ersten Textblock für den Ausdruck "clouds surround you" ein "Wolken umranden dich" gewählt hat. Surround hätte so viele passende Übersetzungen gehabt und es wurde trotzdem die falsche gewählt.

Was sagt mein Horoskop?
Was Numenera nun ausmacht, ist die große Entscheidungsfreiheit. Dabei geht es nicht um gut oder böse, richtig oder falsch. Anstatt der Paragon-Renegade-Skala gibt es fünf Persönlichkeitzüge, hier "Gezeiten" genannt, in denen man sich ausleben kann: Silber (Aufmerksamkeit/Macht), Gold (Barmherzigkeit/Aufopferung), Rot (Emotion/Aktion), Blue (Wissenschaft/Mystizismus) und Indigo (Gerechtigkeit/das Beste für alle). Wenn sich eine oder mehrere Gezeiten als dominant etablieren, hat das subtile Auswirkungen auf unsere Gesprächspartner. Ich war zum Beispiel meist Gold/Blau. Ein Mörder-Killer wollte nicht gegen mich kämpfen, weil er merkte, dass ich ein guter Mensch bin. Und Wissenschaftler haben mir die meiste Zeit direkt aus der Hand gefressen. Das ist schon interessant, da man wirklich viele Möglichkeiten bekommt, sich für jede der Gezeiten stark zu machen.

Im Großen und Ganzen spielt sich Tides of Numenera also eigentlich wie ein dreißigstündiger Persönlichkeitstest.

ouyaWas macht diese Ouya in meinem PC-Spiel?

Neben der hervorragenden Schreibe, die bis zum Ende neugierig darauf macht, was denn für eine Geschichte um die nächste Ecke warten würde, den Texten, die einen Bilder in den Kopf setzen, die man da lieber nicht haben würde, und den Regionen, die so unheimlich werden, dass man doch lieber gleich im Anfangsgebiet geblieben wäre, gibt es noch die Gefährten und die Frage der Immersion. Mit beiden ist es leider nicht weit her.

Versteht mich nicht falsch: Die sechs verfügbaren Gefährten sind alle nett. Aber die Wegbegleiter in fast zwei Jahrzehnte älteren Spielen hatten mehr zu sagen, mehr Charakter und interessantere Hintergrundgeschichten. Vor allem im Vergleich zu dem merkwürdigen Scheiß, der auf dem Weg passiert, sind die Gefährten in etwa so spannend wie ein Kirchenbesuch. Insbesondere auch weil sie wenig untereinander reden, wenig mit der Spielfigur reden und nicht mal viele Sprechertexte haben. Da hat InXile schon ordentliche Talente engagiert und lässt jeden vielleicht viermal im Spiel was sagen. Was für eine Verschwendung.

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Und ich weiß, dass das Spiel natürlich die Nostalgiewelle reiten soll, aber mit der Zeit wird es schon ein wenig inakzeptabel, dass jede Figur in der ganzen Welt nur am Straßenrand steht und darauf wartet, vom Helden angesprochen zu werden. Ein NPC geht mal im Kreis. Das ist das höchste der Gefühle. Ansonsten hatte ich nie den Eindruck, dass es sich beim Beyond the Beyond um eine lebendige Welt handelt, sondern eher um eine lose Aneinanderreihung von Geschichten. Vielleicht kommt euch dieses Gedankenexperiment bekannt vor: Was, wenn ich der einzig echte Mensch bin, und alle anderen sich nur bewegen, wenn ich hingucke? So in etwa spielt sich Tides of Numenera nach einer Weile.

Es gibt sogar Gameplay
Wer jetzt langsam Angst bekommt, dass man sich das ganze Spiel nur durch Dialogbäume klickt, der fühle sich entwarnt: Man tut auch andere Dinge. Nämlich Anstrengung in besonders effektive Dialogantworten zu stecken! Jede Figur hat drei Pools: Kraft, Intellekt und Geschwindigkeit. Will man die Chance auf Erfolg in einer Aktion gehören, muss man zu der dazugehörigen Disziplin aus dem Pool zahlen. Dann gehen die Nummern nach oben. Außerdem kann man Fähigkeiten wie labern, schnelle Finger oder Spezialwissen trainieren, dann muss man weniger zahlen.

Angelehnt ist das ganze an das Numenera-Rollenspielsystem, nur noch einmal vereinfacht - auch wenn das nicht wirklich nötig war. Unterm Strich macht es die wichtigste Spielmechanik relativ anspruchslos und ist nur eine Mini-Auflockerung zwischen Textbatzen.

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Das Doofe und das Gute ist nämlich auch: Wer spezialisiert levelt, muss nie kämpfen. Nie. Selbst wenn es mal zu einem Kampf aufgrund einer Verkettung von schlechten Entscheidungen kommt, hat man oft sogar die Möglichkeit, sich auch da wieder rauszulabern ohne jemanden zu verletzen. Das ist einerseits toll, weil man dann so spielen kann, wie man will! Andererseits ist das doof, weil mich genau das irgendwann total gelangweilt hat. Meine einzige Option: Kämpfe zu provozieren. Weil mir langweilig ist. Das klingt jetzt eher nach etwas, was jemand mit Chaotic/Evil-Gesinnung machen würde.

Das Kampfsystem von Tides of Numenera ist insgesamt okay. Rundenbasiertes Gekabbel mit zwei Aktionspunkten, im Grunde genommen X-COM Light. Man darf sich pro Zug entweder einmal bewegen und eine Aktion ausführen oder sich die doppelte Reichweite bewegen. Hinzu kommen die Fähigkeiten der Spielfiguren, die man entweder X-mal pro Kampf oder pro Tag ausführen darf. Und dann sind da noch die Cypher - verflucht starke Einwegobjekte, die jeden Kampf drehen können. Wegen der relativ dämlichen KI waren die in den Kämpfen, die ich dann heraufbeschworen habe, aber kaum nötig.

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Wer sich beim Spielen übrigens denkt, dass man ja nach jedem bisschen Anstrengung, das man aus den Pools verpulvert, einfach schlafen gehen und alles wiederherstellen kann, der hat sich geschnitten. Viele angenommene Quests haben nämlich einen unsichtbaren Timer. Ihr ermittelt in einem Mordfall und geht mal eben pennen? Oh, da hat der Mörder wohl einen weiteren NPC (samt Quest!) getötet. Tja, schade.

Das ist insofern spannend, dass es auch mal Mut zum Fehlschlagen anspornt. Und das kann sich durchaus lohnen. Wie der Weise Ladebildschirmtext sagt: Manchmal sind die Fehlschläge wesentlich interessanter. Ich wurde zum Beispiel wegen eines verhauenen Wurfs mal erwürgt. Dadurch ging der Quest auch weiter - und nicht im schlechtesten Sinne.

Fazit
Torment: Tides of Numenera hat eigentlich nur einen großen Fehler: Zu wenig spielerische Variation. Die Geschichten sind famos und so abwechslungsreich wie eine Jellybean-Tüte mit zufälligen Geschmacksrichtungen. Es fehlt allerdings an den Herausforderungen, die man nicht nur durch Würfelglück und rudimentäre Kampfstrategie lösen kann. Und die gibt es! In einigen wenigen Augenblicken schaltet Numenera ins rundenbasierte System ohne einen Kampf. Ein Kampf könnte jederzeit passieren. Aber man ist dazu angehalten, andere Lösungen zu finden. Und das ist superspannend! Aber von diesen Momenten habe ich nur zwei gezählt. Für Leseratten ist das kein Beinbruch. Ich hätte mir nach 17 Jahren Wartezeit auf ein neues Torment aber mehr gewünscht als nur die Visual Novel.

Torment: Tides of Numenera wurde auf dem PC (Windows 10 64-Bit, 16 GByte RAM, Intel Core i5-4690, Nvidia GeForce GTX 970) getestet. Für den Test hat sich der Redakteur das Spiel selbst gekauft.

Torment: Tides of Numenera

(Ranking)
A
RANK
Reife Leistung. A-Spiele machen alles richtig oder sind nah dran. Kleine Schwächen werden durch Stärken mehr als wett gemacht. Das ist Spieldesign auf hohem Niveau.

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