Shadowrun: Hong Kong im Test

(Artikel)
Rian Voß, 24. März 2016

Shadowrun: Hong Kong im Test

Albtraum in der Walled City

Shadowrun: Dragonfall war für mich eine willkommene Überraschung. Ich war ohnehin gerade dabei, mit Freunden das originale Pen & Paper zu spielen und da war es einfach nur klasse, parallel im Berlin der Zukunft rundenbasiert für Straßenrecht und Straßenordnung zu sorgen. Meine ganze Freizeit war damals irgendwie von dem Cyberpunk-Setting eingenommen. Entsprechend gehyped war ich auf den 2015er-Release des Nachfolgers Shadowrun: Hong Kong, insbesondere weil die Walled City Kowloon darin vorkommen sollte. Dass eine Stadt und deren ganzes Ökosystem nur aus einander angrenzenden Hochhäusern besteht, fand ich schon bei Shenmue 2 enorm faszinierend. Nun stellt sich die Frage: Wenn so viele Signale auf ein tolles Spiel hindeuteten, warum kommt das Review erst jetzt?

Shadowrun: Hong Kong macht viele Dinge anders. Zuerst einmal ist da das Setting: In der neonbeleuchteten Freien Geschäftszone Hong Kong mit unserer Homebase im wassernahen Stadtteil Heoi wirkt alles gar nicht mehr so wie in Dragonfall. Dort kannte man als Deutscher eventuell einige Ecken und die ganze Art, wie Gebäude gebaut und Straßen beleuchtet waren, kam mir vertraut vor. In Hong Kong bin ich, außer virtuell, noch nie gewesen und das neue Gelände lädt zum Explorieren ein. Es besteht die Möglichkeit, diese ganz andere Kultur zu erforschen, sie durch die Augen eines Amerikaners in der Fremde zu entdecken und ein wenig frische Polygonluft zu schnuppern.

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Diese Chance wurde allerdings kaum genutzt. Abgesehen von Heoi, das der Party als Hub dient, in der man Ausrüstung kaufen und mit NPCs reden kann, gibt es kaum lokales Coleur, das sich von der generischen Neonmasse abhebt. Mit kleinen kulturellen Ausnahmen, wie etwa dem Zen-Garten auf dem Dach des Megacorp-Tochtergebäudes, hat die dystopische Globalisierung voll in Hong Kong zugeschlagen. Selbst wenn man später Kowloon betritt – eine Stadt, in der es Menschen dreckiger geht als dem Rest der Welt und Tageslicht ein Luxus ist –, wirkt alles recht offen und "normal". Innen kein Unterschied zu außen.

Ähnliches gilt für unsere Spielfigur und deren Bruder Duncan, dem Orc. Diesen ungleichen Geschwistern wird eine Vergangenheit in den Redmond Barrens aufgedrängt, dem kriminellsten Stadtteil des Seattle Megaplex. Wirklich, die beiden kommen über die ganze Spiellänge nicht davon weg, alles und jeden mit Erfahrungen aus den Barrens zu vergleichen. Aber da Duncan seit einer Weile bei einer Sicherheitsfirma in Hong Kong arbeitet und beide Figuren von einem Chinesen großgezogen worden sind, sprechen sie natürlich astreines Mandarin und stolpern kaum in kulturelle Fettnäpfchen. Nicht selten fragte ich mich, warum dieses Spiel überhaupt in Asien stattfindet. Atmosphärisch hat es nicht geholfen – abgesehen von den nett auf fernöstlich gedrehten, bekannten Serien-Musikstücken –, und neues gelernt habe ich auch nicht.

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Mehr schleichen, mehr Hinterhalt
Mechanisch haben sich zwei wichtige Dinge geändert. Zum einen ist Virtual Reality und das Hacken darin nun an einen Overwatch Score ähnlich der Rollenspielvorlage gebunden. Jede Aktion, insbesondere Kämpfe, erhöht den Score. Überschreitet man ein gewisses Limit, ist man am Arsch. Das hat starke Einflüsse auf das Hacken an sich. Wo man sich vorher wie in der "realen" Welt durch den Cyberspace durchkämpfte, erinnern diese Segmente nun eher an Stealth-Passagen, in denen man nur kämpft, wenn man erwischt wird. Und selbst dann will man den Kampf so schnell wie möglich beenden, denn lange Kämpfe treiben die Overwatch in die Höhe. Insofern ist die digitale Umstellung eine willkommene Abwechslung, auch wenn sich das Herumgeschleiche eher grobschlächtig anfühlt. Wahrscheinlich ist die Spieleengine einfach nie auf Stealth ausgelegt gewesen.

Eine andere willkommene Neuerung ist der manuelle Kampfmodus. Man kann nun jederzeit die Waffen ziehen und die Figuren in Position bringen. Bei den Vorgängern ist man immer Hals über Kopf mit der ganzen Gruppe durch die Tür gestürmt, auch wenn man genau wusste, dass auf der anderen Seite Schergen mit Schießprügeln warten. Da ist es schon wesentlich angenehmer, intelligent einen Hinterhalt vorzubereiten oder zumindest die weichen Magier und Hacker hinter Deckung zu bunkern.

Leider sind die Kämpfe trotz der gewonnenen taktischen Finesse nicht sehr anspruchsvoll. Ich weiß nicht, ob es an meiner Erfahrung durch den Vorgänger liegt oder ob Hong Kong einfach nur leichter ist, aber ich habe in meinem ganzen Playthrough nicht ein einziges Medikit benutzt und einen Heilmagier hatte ich auch nicht in der Party. Es war einfach nicht notwendig und die Figuren werden mit laufender Geschichte so mächtig, dass man selbst eine Übermacht leicht wegrotzt. Das ist nicht gerade shadowrunnig, wo üblicherweise die Flucht vor dem Kampf steht.

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Karussell statt emotionaler Achterbahn
Shadowrun: Hong Kong ist natürlich ein enorm storylastiges Spiel. Ihr könnt euch auf viele, viele Stunden des Lesens vorbereiten. Das ist nicht schlimm, da Dialoge und Dokumente immerzu gut und unterhaltsam geschrieben sind. Allerdings hat das Spiel nicht im Detail Probleme, sondern auf der Macro-Ebene. Die Geschichte um den verstorbenen Ziehvater der Protagonistengeschwister ist relativ öde und auch der später immer wichtiger werdende B-Plot um die Albträume, die aus Kowloon in die Köpfe der Bevölkerung strömen, sind eher geradeheraus und bieten wenige Höhen und Tiefen. Man folgt dem roten Faden und irgendwann ist das Spiel vorbei ohne dass etwas wirklich Überraschendes geschah.

Üblicherweise vertreiben Nebenplots um die Partymitglieder die Zeit und werten die Atmosphäre deutlich auf. Während in Shadowrun: Dragonfall jede Figur ein Knüller war, ist die Party in Hong Kong eher durchwachsen. Duncan zieht seinen unverarbeiteten Vaterkomplex von Anfang bis Ende durch und auch die erst vielversprechende Zwergendeckerin Is0bel macht oft nicht mehr als stumm vor sich herzubrooden oder darüber zu jammern, wie schwer ihre Kindheit war. Interessanter sind da schon der russische und moralisch flexible Wissenschaftler Racter mit seinem Drohnenhund Koschei, der Samurai-Ghul Gaichu oder die Rattenschamanin Gobbet. Deren Nebenmissionen habe ich genossen. Das sind also immerhin drei von fünf Treffern.

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Mir fiel auch positiv auf, dass Teammitglieder häufig ihre Eigenschaften in Gesprächen oder Problemsituationen einbringen können. In Dragonfall hatte ich zwar eine zweieinhalb Meter große Trollfrau im Team, aber wenn eine Tür verschlossen war, musste ich sie entweder selbst eintreten oder einen anderen Weg finden. Jetzt kann Gobbet Magie erschnüffeln, Racter kann Drohnen analysieren und Duncan kann Wachen mit Wissen über Militärprotokolle weismachen, dass wir zur Truppe gehören.

Fazit
Shadowrun: Hong Kong macht viele Sachen anders, aber nicht zwangsläufig besser. Beim Setting haben Harebrained Schemes viel Potenzial verschenkt, die Partymitglieder sind nur okay und ich hatte irgendwann davon genug, meiner Protagonistin ständig bei ihrem Gefasel über die Redmond Barrens zuzuhören. Das allein verletzt die erste Regel der Narration: Show, don't tell. Unterm Strich bleibt das Rollenspiel immer noch ein guter Titel mit vielen Stunden unterhaltsamer Spielzeit, aber gerade im direkten Vergleich mit dem nur wenig jüngeren Vorgänger ist Shadowrun: Hong Kong eine merklicher Schritt schräg nach hinten. Insofern ist die Antwort auf die Frage am Anfang, warum der Test erst jetzt kommt, das Fazit des Reviews: Weil Shadowrun: Hong Kong für mich nicht sonderlich spannend war.

Shadowrun: Hong Kong wurde auf dem PC (Windows 10 64-Bit, 16 GByte RAM, Intel Core i5-4690, Nvidia GeForce GTX 970) getestet. Ein Testmuster wurde uns von Harebrained Schemes zur Verfügung gestellt.

Shadowrun: Hong Kong

(Ranking)
B
RANK
Anständig. Stärken und Schwächen halten sich die Waage. Positive Überraschungen sind genauso selten wie negative. Unterm Strich muss man seine Spielzeit keinesfalls bereuen.

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20. August 2015
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