Emily is Away im Test

(Artikel)
Haris Odobašic, 25. November 2015

Emily is Away im Test

Nostalgischer Emotionsritt, aber nicht für jeden

Ich konnte mein Herz nicht für Emily öffnen, doch das lag nur an mir. Emily ist eure Schulfreundin im Jahr 2002, gerade kurz vor dem Abschluss und damit auch vor dem Sprung auf die Universität. In den USA, in denen der Titel spielt, ist das traditionell auch der Zeitpunkt, wo früher viele Freundschaften auf die Probe gestellt wurden, weil man sich quer über das großflächige Land verteilte. Mit dem Internetzeitalter änderte sich dies und entsprechend nutzt ihr einen Instant-Messenger, um mit Emily in Kontakt zu bleiben, die für euch so eine Art Kindheitsschwarm ist. Das ist aber auch für mich das Problem: mir wird diese Rolle einfach aufgezwungen, in der ich für Emily Gefühle haben soll.

Emily Is Away lässt euch dabei die Jahre 2002 bis 2006 in insgesamt fünf Kapiteln spielen, vom letzten Schuljahr bis zum Universitätsabschluss. In jedem Kapitel habt ihr einen Chat mit Emily, tauscht euch über euer Leben aus, was auch den Storyfaden aufspannt und euch immer wieder vor Entscheidungen stellt. Manchmal geht es um Triviales, wie ihr eben hallo sagen wollt oder euch verabschiedet, aber manchmal werden auch wichtige Entscheidungen getroffen. Geht man zur Abschlussfete mit Emily oder erfindet man eine Ausrede, um Zuhause zu bleiben? Zu sehen, wie diese Entscheidungen dann in den nächsten Kapiteln reflektiert werden, macht entsprechend einen großen Reiz aus. Aber die größte Spannung im Storybogen bringt wenig, wenn der zentrale Charakter einen nicht wirklich anspricht.

emily-is-away-avatar

Dabei habe ich gar keine Probleme, auch mal für fiktionale Figuren ins Schwärmen zu kommen. Ich denke gerne an Persona 3 zurück, einem Lebenssimulator, in dem man einen Schuljungen steuert der, natürlich, nebenbei auch noch Monster bekämpft. Ein Highlight des Spiels ist es, dass man zu verschiedensten Nebencharakteren Freundschaften und Beziehungen aufbauen kann. Um eine Beziehung mit einer ganz bestimmten Figur aufbauen zu können, Maya, muss man im Spiel an ein Computerterminal gehen und dort auswählen, dass man ein MMORPG spielen will. Natürlich kein echtes MMORPG, aber mit ein paar Textzeilen wird einem vorgegaukelt, dass man nun den ganzen Tag eben damit zugebracht hätte. Dort trifft man dann auf Maya und lernt sie mit jeder Sitzung etwas näher kennen.

Ich hatte also seinerzeit ein ganzes "richtiges" Spiel und machte stattdessen dieses MMORPG, welches keinerlei visuelle Repräsentation hatte, zu meiner absoluten Priorität. Denn ich wollte unbedingt die Beziehung mit Maya vertiefen. Das führte dazu, dass ich den Rest des Spiels – Lebenssimulator und Dungeoncrawler in einem – so stark vernachlässigte, dass ich ein Game Over bekam. Mir war einfach nicht mehr genug Zeit geblieben für ein paar zeitkritische Missionen. Dass ich gut fünf Stunden Spielzeit verloren hatte juckte mich aber nicht, denn diese Figur hatte für mich einfach zu sehr herausgestochen. Wir hatten mit der Vorliebe für Videospiele eine große und wichtige Gemeinsamkeit und zudem war ihr Schreibstil unheimlich charmant, gespickt mit japanischen Emoticons, die Dialoge unheimlich lebendig mit Anspielungen und vielem mehr. Sie wirkte einfach menschlich; sie wirkte wie jemand, den ich gerne auch in echt kennen gelernt hätte.

Emily hingegen ist ein ganz gewöhnliches Mädchen, die die Bands mag, die gerade in sind und eben das tut, was alle Teenager in ihrem Alter tun: sich um die Zukunft sorgen und Parties besuchen. Selbst ihr Schreibstil ist einfach absolut typisch. Groß-/Kleinschreibung und Interpunktuation eher mäßig, ein Schreibstil, der durch ein gelegentliches "lol" oder einen Standardsmilie etwas aufgelockert wird. Wenn ich an "Maya" zurückdenke, die mir so unheimlich lebendig und schillernd erschien, dass ich mich ins Spiel im Spiel verlor, dann aber zu Emily schaue, die eher wie ein grauer, generischer Blob daherkommt, ist es kein Wunder, dass ich mich ihr niemals so richtig öffnen konnte. Mit einer Person wie Emily hätte ich zu meiner Schulzeit einfach nichts anfangen können.

Und dabei bemüht sich Emily is Away wirklich sehr darum, seinem Text-Adventure-Fahrgestell ein möglichst schmuckes Design zu verpassen, um viel Nostalgie auszulösen. Der Chatclient, in dem die Kommunikation stattfindet, ist stark an den AOL Messenger angelehnt. Und das Spiel steckt voller Referenzen auf den damaligen Zeitgeist, wie man zum Beispiel gut an Emilys Icon sieht, welches sie jedes Jahr ändert, und so immer wieder eine Band referenziert, die damals eben in war. Mal Snow Patrol, dann Muse. Hätte das Spiel 2001 angefangen, wären es sicher Linkin Park oder Nickelback gewesen, die ihren Avatar zieren. So gut geschrieben, aber eben auch vorhersehbar und generisch, ist Emily.

Schön sind auch Momente, wo man sieht, wie Emily was tippt, dann löscht, und dann wieder tippt. Was sie wohl gelöscht hat? Ist das, was sie nun niedergeschrieben hat, wirklich das, was sie sagen wollte? Es ein Zeugnis der hohen Qualität der Dialoge.

emily-is-away-chat

Und auch wenn man selbst dran ist mit dem Tippen –- und man muss wirklich tippen, um seine Antworten einzugeben nachdem man sie selektiert hat -- gibt es ein paar nette Kniffe, die für Immersion sorgen. Wenn man zum Beispiel eine Dialogauswahl trifft, der eigene Charakter anfängt zu schreiben, dann plötzlich aber Hemmungen hat und die Formulierung entschärft oder gar was ganz anderes hinschreibt. Auch hier kann man vor der Tastatur wunderbar mitfühlen und reflektieren. Trotz der Grundprämisse Text-Adventure hat man hier also viele Wege gefunden, sich von der Masse abzuheben und Emily is Away zu einer absolut einzigartigen Erfahrung zu machen.

Entsprechend ist das, trotz des schwachen Hauptcharakters, ein Aspekt, bei dem ich von Emily Is Away vollkommen beeindruckt bin. Es reflektiert natürlich auch meine Lebensrealität zu der Zeit gut. Bevor Social Media die Art und Weise, wie und wann wir kommunizierten, grundlegend verändert hat. Eine Zeit, wo man tatsächlich noch mit Leuten reden musste, um zu erfahren, was in ihrem Leben vorging oder wie es ihnen gerade geht.

Die gelungene nostalgische Aufmachung mit vielen Referenzen zur Zeit um die Jahrtausendwende herum macht Spaß und gibt dem Spiel einen schönen Rahmen, der auch mich in der Vergangenheit schwelgen lies. Leider konnte ich aber keine wirkliche, emotionale Bindung zu Emily aufbauen. Emily als Figur war mir zu konstruiert, zu gezwungen, zu sehr darauf bedacht, möglichst viele Leute anzusprechen. Jedoch sehe ich dahinter eher die Schuld bei mir und meinen Erfahrungen, die ich gesammelt habe und die mich in diese Richtung geprägt haben. Deswegen konnte Emily in mir auch nicht die Gefühle auslösen, die sie sollte. Dennoch ist Emily is Away für mich eine Empfehlung wert, auch wenn es mich kalt gelassen hat, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass es da draußen mehr als genug Leute geben wird, die nicht nur Lust auf den Nostalgie-Trip haben, sondern auch in diesem Spiele viele Parallelen zu ihrem Leben wiederfinden werden. Die die Gefühle wiedererleben werden, die mir verwehrt blieben. Und für diesen Fall solltet ihr dann auch auf jeden Fall das ein oder andere Taschentuch bereithalten. Haris

Emily is Away wurde auf dem PC getestet. Das Spiel ist kostenlos auf Steam erhältlich.

Emily is Away

(Ranking)
B
RANK
Anständig. Stärken und Schwächen halten sich die Waage. Positive Überraschungen sind genauso selten wie negative. Unterm Strich muss man seine Spielzeit keinesfalls bereuen.

Kommentare

Sanni
29. November 2015 um 12:39 Uhr (#1)
Auch wenn das jetzt kein AA-Titel ist: Schön zu sehen, dass hin und wieder mal wieder neue Titel dieses sonst fast schon ausgestorbenen Genre zu sehen sind. :) Ich spiele hin und wieder ganz gerne Textadventures. Ich denke, dieses Spiel hat vor allem einen Reiz für alle, die mit den Messengern der frühen 2000er aufgewachsen sind. In Zeiten von Facebook und Whatsapp ist es sicherlich nostalgisch, mal wieder in eine frühere, "entschleunigte" Zeit zurückzukehren und einzutauchen.
Rian
30. November 2015 um 12:50 Uhr (#2)
Dank freiwilligem, großteiligem Verzicht auf Facebook lebe ich immer noch in den gemütlichen 2000ern, höhöhö.
Gast
29. März 2024 um 10:26 Uhr
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