Undertale im Test

(Artikel)
Paul Rubah, 10. Oktober 2015

Undertale im Test

Ich bin wieder Zehn und spiele mein erstes JRPG

Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. So schade es ist - es gibt einfach keine zweite Gelegenheit für erste Erfahrungen. Das erste Tor in FIFA 97, der erste Headshot in Unreal Tournament oder die erste Sims-Familie. Einmalige Erlebnisse, die Sequels oder Kopien vielleicht sogar besser hinbekommen, aber für uns niemals gleich viel bedeuten werden. Genauso wie jeder sein erstes JRPG liebt und aufs Blut verteidigt. Zu meiner Zeit waren das etwa Final Fantasy 7 oder Chrono Trigger. Ich fieberte mit den Figuren mit, lachte mit ihnen und war immer voll dabei, wenn es ins spannende Rennen um die 0 HP ging. Es war unmöglich, mich vom Bildschirm zu reißen und meine Eltern mussten Mittag- und Abendessen an meine Speicherpunktbesuche anpassen.

Aber 25 Jahre Gamertum hinterlässt seine Spuren. So richtige Überraschungen bleiben aus. Die ersten Male werden weniger. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund, warum Gamer, die in der Beschäftigung mehr als nur ein Hobby sehen, oft auf neue Technik und mehr grafische Möglichkeiten warten - wir hoffen, dass dort irgendwo eine Erfahrung schlummert, die uns so sehr die Schuhe auszieht wie ein Star Fox, ein Mario 64 oder ein Shenmue. Aber vielleicht schauen wir in die falsche Richtung. Vielleicht liegt in der Vergangenheit mehr Zukunft, als wir gedacht haben.

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Undertale ist ein NES-JRPG. Natürlich nicht wirklich, das Spiel ist dieses Jahr exklusiv für PC-Plattformen herausgekommen, aber der Look schreit 1985: Schrille Farben, harte Kontraste und große Pixel. Der erste Eindruck soll aber nicht täuschen, schließlich muss Undertale nicht mit den einstigen Speicherlimits der NES-Karten kämpfen. Gesichtsausdrücke begleiten Gespräche mit wichtigen Charakteren, Areale sind voller Details und interaktiver Objekte und auch die eine oder andere technische Überraschung jenseits der Achtzigerjahre wartet. Die altbackene Grafik hebt das Wichtigste hervor und spart trotzdem nicht an manchem Bonbon fürs Auge. Aber das ist nicht wichtig.

Wichtig
Gute Indie-Spiele kennzeichnet mehr als die oft verpönte Retro-Grafik. Ich spreche hier von einer manchmal geradezu lächerlichen Liebe zum Detail. In der Spieleentwicklung gibt es einige grundlegende Regeln. Eine davon ist das Recycling von Assets. Animationen müssen wiederverwertbar sein, Texturen muss man nicht nur hier, sondern auch dort einpflegen können und Levelbausteine sollten auch an mehreren Stellen einen Platz finden ohne dass es groß auffällt. Wirtschaftliche Projekte lassen sich kaum anders aufziehen, vor allem, wenn sie riesig aufgebläht sind wie die Assassin’s Creeds oder die Call of Dutys unserer Zeit. Undertale bestreitet dagegen den Weg der Individualität.

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Nahezu jede Aktion im Spiel ist mit einer Entscheidung verknüpft, die Konsequenzen nach sich zieht, denn: Töten ist komplett optional. Eines der wichtigsten Elemente klassischer Rollenspiele ist das Herumlaufen und Abschlachten von Monstern für Geld und Erfahrungspunkte. Undertale unterstützt diesen Pfad. Ihr könnt euch mit Waffen und Rüstung ausstaffieren und Feinde töten. Ihr müsst euch meistens nicht mal schlecht dabei fühlen, denn die greifen ja schließlich euch an! Der Clou ist aber, dass nie jemand mit einem Wort erwähnt, wie das Kampfsystem funktioniert. Die erste Person, die euch im Spiel über den Weg läuft, erklärt euch nur, wie ihr verschont.

Toriel ist eine Frau in Ziegengestalt, die die Hauptfigur nach ihrem Sturz in die Welt der Monster aufnimmt und fürsorglich pflegt. Euren ersten Kampf bestreitet ihr gegen einen Dummy, den ihr zur Übung beschwatzen und dann verschonen sollt. Toriel bringt euch auch bei, wie man mit Puzzles fertig wird und erklärt euch, dass man mit einer Konversation einfach Zeit gewinnen sollte, bis sie zur Rettung kommt. Natürlich ist Toriel nicht immer für einen da. Und nicht alle Monster sind sofort einsichtig.

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Statt zu kämpfen und den richtigen Zeitpunkt zum Zuschlagen abzupassen, verlässt sich der pazifistische Spieler auf das "Act"-Kommando. Durch Beobachtung und die richtigen Worte zur richtigen Zeit verliert der Gegner dann einfach die Lust am Kämpfen. Ein Gegner mit Glubschauge bittet uns etwa darum, dass wir uns nicht über ihn lustig machen sollen. Okay! "Nicht lustig machen" auswählen und dann ist das Vieh so dankbar, dass man es verschonen kann. Natürlich wird das später komplexer und erfordert auch mal die richtigen Aktionen in der richtigen Reihenfolge. Das Problem: Verschonen bringt keine EXP und keine Level. Der Pazifist bleibt also immer auf Level 1. Kämpfernaturen haben es deutlich einfacher, vor allem, wenn es um die Abwehr geht. Aber der vereinfachte Schwierigkeitsgrad kommt nun mal mit einem Preis für euer Gewissen.

Hier macht Undertale etwas wirklich Einzigartiges. Ist der Gegner am Zug, sperrt er die Seele des Protagonisten, ein rotes Herz, in einen Kasten ein und beschießt es mit allerlei Zeugs. Froggits lassen Fliegen fliegen, andere Gegner schießen Magma oder feuern Verfolgerkugeln ab. Das Ganze hält nur einige Sekunden, in denen man dem Angriff ausweichen muss. Wer das nicht schafft, bekommt auf die Schnauze und büßt Lebenspunkte ein. Dabei hat jeder normale Feind immer zwei eigene Angriffsmuster, damit es nicht langweilig wird, und Gegnerkombinationen führen auch zu kombinierten Angriffen. Teilweise artet das in wahrhafte Kugelhöllen aus. Insbesondere bei den Bossgegnern.

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Bosse sind immer etwas Besonderes. Die zu überreden kann viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen, aber selbst diese Badasses haben irgendwo einen weichen Kern, den man nur an die Oberfläche schwatzen und knuddeln muss. In anderen Rollenspielen freut ihr euch, wenn ihr einen starken Feind im Duell bezwingt. In Undertale bezwingt ihr starke Feinde und seid auch noch die moralischen Sieger!

Aber auch hier kann das Gegenteil eintreten: Jeden Feind kann man abmurksen. Und jeder Charakter ist Teil der Spielwelt - sogar die Random Encounters. Ihr könnt zu jedem Moment stark in die Geschichte von Undertale eingreifen, ganze Handlungszweige abknicken und sie durch Trauer und Rachegelüste ersetzen. Auch Monster haben schließlich Gefühle. Dabei gehen einem die Schicksale der Untergrundwesen ganz nahe ans entblößte Herz, denn eigentlich sind das alles liebe Geschöpfe, die aber unheimlich gerne aus ihrem von den Menschen auferlegten Exil ausbrechen wollen. Das Dilemma ist da nur, dass das eine Menschenseele erfordert... Trotzdem ist es enorm schwierig, den Charakteren böse zu sein und es ist eine echte Freude, Feinde in Freunde zu verwandeln.

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Die Figuren - auch wenn sie teilweise noch etwas mehr in die Tiefe hätten gehen können - wachsen einem dabei so ans Herz, dass ich nach einem friedlichen Durchlauf es wirklich schwer hatte, im zweiten Anlauf alles zu töten. Ich habe einige Freunde, die den sogenannten Genocide Run einfach strikt ablehnen - obwohl dieser absolut psychopathische Pfad die Story komplett umkrempelt, grandiose Musikstücke und einen der härtesten Bosskämpfe meiner Spielerlaufbahn bietet. Aber irgendwie kann ich es auch verstehen, denn auch wenn man das Spiel resettet, erinnern sich manche Figuren weiterhin an manche Dinge, die man getan hat. Das liegt manchen dann doch schwer auf dem Gewissen. Konsequenzen.

Man kann es nicht anders sagen: Undertale ist perfekt gepacet. Natürlich gibt es letztendlich nur einen Weg, den man laufen kann, um zum Ziel - dem Ausgang aus dem Untergrund - zu kommen. Doch man kann immer mal wieder kleine Explorationsexkurse starten und Secrets entdecken. Und nicht selten wirft einem Undertale vollkommen unerwartete Situationen oder Spielmechanismen entgegen, so dass man gar nicht bemerkt, wie eng der Schlauch um einen herum eigentlich ist. Von Verfolgungsjagden über Musikrätsel, dem taktischen Streichelkampf mit einem Hunderitter bis zu einem Date mit einem Skelett ist alles drin und Undertale weiß, wie es die sechs bis acht Stunden Spielzeit für einen Durchgang bis zum Rand füllt.

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Nicht zuletzt ist der herausragende Soundtrack dafür verantwortlich, dass Undertale mehr als nur gut ist. Alle Musikstücke hintereinander ohne Wiederholungen füllen zwei Stunden Spielzeit und jedes einzelne ist auf eine Situation zugeschnitten. Dabei spielt der Entwickler oft mit den Erwartungen des Spielers. Die Musik verbleibt meist in witzigen Chiptunes, die zu den vielen komödiantischen Situationen passen. Aber in manchen Momenten brechen Instrumente durch, die kein Soundchip von vor zwei Jahrzehnten hätte produzieren können. Das hat mich jedes Mal kalt erwischt und passt trotzdem immer wie die Faust aufs Auge, besonders wenn es ernst wird. Vor allem zum Ende hin verliert Undertale einiges von seinen Witzeleien und zieht andere Saiten auf.

Gute Interpreten stellen ihre OSTs gratis bereit. Gute Spieler kaufen sie trotzdem.
Der wichtigste Aspekt von Undertale ist, dass es überraschen kann. Ich will natürlich nichts vorweg nehmen, aber Undertale hat bewirkt, dass ich laut lachen musste, mit weit geöffneten Augen vor dem Bildschirm saß oder mit einem instinktiven "OH SHIT!" plötzlich in die Tasten hauen musste. Ich habe dem Bildschirm applaudiert, in emotionalen Momenten meine Brille vom Gesicht gerissen und einen ganzen Bosskampf lang durchgeweint.
Gerade wenn ihr euer Zelt im Trott der JRPGs des letzten Jahrzehnts aufgeschlagen habt, dann ist das, was euch dieses Spiel bietet, enorm erfrischend. Letztendlich ist es so, als wäre mein Verstand in der Zeit zurückgereist und ich hätte mein erstes, richtig gutes JRPG erneut zum ersten Mal gespielt.

Undertale ist nicht nur clever, klasse strukturiert und fordernd. Es ist nicht nur herzensgut, lustig, traurig und schockierend. Es ist nicht nur voller Charaktere, mit denen man mitfühlt, einer Story, die man so noch nicht gesehen hat und voller Musik, die jeden einzelnen Moment fantastisch unterstreicht. Es ist nicht nur so kunstvoll, mit der einfachen Optik das Wichtigste hervorzuheben und trotzdem die Details nicht zu vergessen. Es ist nicht nur eine Hommage oder eine Parodie. Undertale ist vor allem eins: es ist wichtig. Undertale zeigt uns, dass der Brunnen nach über 40 Jahren Videospielgeschichte immer noch voll ist. Wir haben noch lange nicht alles gesehen, alles gefühlt und alles erlebt. Undertale ist ein Spiel, das Spielern, die denken, es wiederhole sich doch nur alles, den Horizont wieder ein ganzes Stück nach hinten versetzt. Es ist ein Musterbeispiel für ein Indiespiel: Mit wenigen Ressourcen schaffen wenige Menschen, was kein Publisher der Welt kaufen kann. Undertale ist bedeutsam - und wird es noch lange bleiben.

Undertale wurde auf dem PC (Windows 10 64-Bit, 16 GByte RAM, Intel Core i5-4690, Nvidia GeForce GTX 970) getestet. Für den Test hat sich der Redakteur das Spiel selbst gekauft.

Undertale

(Ranking)
S
RANK
Herausragend. S-Spiele erweitern Horizonte. Sie bieten intensive Erlebnisse oder halten den Spieler noch lange am Bildschirm gefesselt. Selbst wenn man sie nicht jedem empfehlen kann, will man doch mit jedem über sie reden.

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19. April 2024 um 20:47 Uhr
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15. September 2015
PLATTFORM
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Plattform - PC-Spiele haben mit die älteste Tradition. Heutzutage laufen die meisten Games unter dem Microsoft Windows.

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