Shadowrun: Dragonfall im Test

(Artikel)
Paul Rubah, 08. Juni 2015

Shadowrun: Dragonfall im Test

Berlin, wie ihr es nie gesehen habt

Es ist noch nicht lange her, dass ich mit dem Pen-&-Paper-Rollenspiel Shadowrun angefangen habe. In wenigen Monaten ist dieser Pate des Cyberpunks zu einem recht großen Teil meiner Freizeit mutiert. Spiele-Abend einmal die Woche, dazwischen immer wieder neue Ideen für die nächste Sitzung wenden, mit anderen Spielern darüber sprechen, wie man unbemerkt an den Sicherheitsvorkehrungen vorbei kommt, und immer wieder lesen, lesen, lesen. Inzwischen habe ich knapp drei Regel- und Settingbücher der fünften Edition gefressen und meine Faszination für die düsteren Straßen Seattles und die weltweite, konzerngetriebene Dystopie hat mir bereits einen weiteren Stapel in den Schoß getrieben, der nur auf Verzehr wartet. Wenn ich für eine Sache eine Leidenschaft entwickle, dann mache ich kaum noch etwas anderes - und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass The Witcher 3 auf meiner Festplatte gammelt, während Harebrained Schemes Shadowrun: Dragonfall über den Bildschirm flimmert.

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Dragonfall wird ein wenig zu Unrecht als Standalone-Add-on zu Shadowrun Returns verkauft. Man fragt sich: Soll ich wirklich rund 15 Euro in einen DLC reinstecken? Tatsächlich bietet Dragonfall aber über dreißig Stunden spannende Kämpfe, großartige Geschichten und schillernde Charaktere in einem von Returns unabhängigen Setting. Unseren Protagonisten verschlägt es nämlich in den Staat Berlin vor 2064. Crash 2.0 hat noch nicht die Matrix, das Virtual-Reality-Äquivalent des Internets, pulverisiert, alles ist noch verkabelt und der Berliner Flux State genießt seine seltene Freiheit von den erdrückenden Konzernen.

Watch your back
Es ist ein ulkiges Gefühl, als Deutscher die englische Version eines Spiels in unserer verwahrlosten Hauptstadt der Zukunft zu spielen. Überall erkennt man Straßennamen, U-Bahn-Stationen und vielleicht sogar die ein oder andere Kreuzung wieder. Da es keine zentrale Organisation gibt, rauft sich die Berliner Bevölkerung zu Kiezen zusammen. Monika Schäfers Kiez ist der Kreuzbasar. Die Top-Hackerin ist der unantastbare Beschützer des Kreuzbasars - und ein Shadowrunner. Shadowrunner sind die, die die Drecksarbeit für jene erledigen, die genug zahlen. Manchmal tut man Gutes, manchmal eher weniger - wer als Runner ruhig schlafen will, fragt am besten nicht nach. Monika hat uns aus dem Rhein-Ruhr-Metroplex für eine simple Rein-Raus-Mission auf einem ländlichen Anwesen bestellt. Die Mission beginnt als reine Routine, stellt sich aber schnell als Schlangennest heraus, in das wir voll reingestochen haben. Monika stirbt in unseren Armen, wir entkommen mit dem nackten Leben und kehren zurück zu einem Kreuzbasar in Aufruhr. Unsere Aufgaben sind vielschichtig: den Kiez stabilisieren. Herausfinden, wer Monika umgebracht hat. Geld für Informationen heranschaffen. Und unsere tote Freundin rächen.

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Shoot straight
Man muss kein Shadowrun-Nerd sein, um in Dragonfall rein finden zu können. Wer weiß, dass die großen Konzerne die Welt in ihren ökonomischen Krallen halten, der hat schon alle Voraussetzungen erfüllt. Aber wer einen Hintergrund mit diesem Fantasy-meets-Cyberpunk hat, der kann wertschätzen, wie gut Dragonfall die Strukturen eines Shadowrun-Spiels simuliert. Um eine Informantin zu bezahlen, muss man - frei nach Spaceballs - eine Menge Geld herankarren. Wie man das macht, ist dem Shadowrunner überlassen. Unser Fixer, Paul Amsel, stellt uns Aufträge in Aussicht, die wir annehmen oder ablehnen dürfen. Ich habe beispielsweise davon abgesehen, Medikamente von Leuten zu klauen, die sie brauchen, habe dafür liebend gerne der ultrarechten Humanis-Bewegung auf die Schnauze gegeben.

Jede Mission ist eine in sich abgeschlossene Kurzgeschichte mit den bekannten Tücken einer Shadowrun-Mission: Unser Fixer oder anonymer Auftraggeber gibt uns einen guten Plan, der geht vollkommen schief und man muss schauen, wie man mit heiler Haut wieder herauskommt. Manchmal hilft da reden - mit genug Charisma spielt man Etiketten frei, mit denen sich die NPCs beschwatzen lassen. Davon sind einige mehr, einige weniger nützlich. Auch andere Fähigkeiten des Protagonisten können hilfreich sein. Wenn ein Zivilist zum Alarm rennt, kann Schnelligkeit Schlimmstes vermeiden. Oder ausreichend Willenskraft genügt, um eine Abkürzung durch ein magisches Siegel zu nehmen. Kein Charakter kann alles können und so gibt es immer die eine Mission, die man nahezu ohne Blutvergießen beendet, während man bei einer anderen einfach der falsche Typ am falschen Ort ist. Dann müssen die Waffen sprechen.

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Conserve ammo
Dragonfalls rundenbasiertes Spielsystem erinnert enorm an die Fallout-Serie, vor allem die älteren Teile: Spielfiguren besitzen Aktionspunkte, die der Spieler entweder in Bewegungen auf einem Raster oder in andere Aktionen umtauschen kann. Ein Hacker, Decker genannt, kann Feinde verwundbarer machen, die Cyborgfrau schmeißt ihre Adrenalinpumpe an und bekommt einige Runden einen Aktionspunkt extra, der Magier schleudert einen Kugelblitz oder der Troll feuert mit dem hochkalibrigen Scharfschützengewehr Hüte von den Köpfen. Man gebe ein rudimentäres Deckungssystem und ein paar herausfordernd konstruierte Begegnungen hinzu und schon bringt Dragonfall des Taktikers Herz zum Lachen.

Wer Shadowrun besser kennt, dem werden kleinere Änderungen auffallen. Cyber-Gliedmaße sind etwa spottbillig, Essence funktioniert etwas anders, Commlinks existieren schon vor Crash 2.0 und Orks sowie Trolle sind vieeeeel zu hübsch.
Leider trüben einige mechanische Schwächen das formvollendete Erlebnis. Zum einen ist die KI kackedumm. Wirklich - sie ist so ultimativ berechenbar, dass es peinlich ist. Wenn Gegner einen Decker oder einen Magier sehen, dann ballern sie fast ausschließlich auf ihn - egal wie weit er weg ist und hinter wie vielen Zentimetern Saeder-Kruppstahl er sich versteckt. Die meisten Gegner stürmen dann aus ihrer Deckung geradewegs nach vorne und interessieren sich nicht dafür, dass sie ihre Runde direkt vor dem Ork mit der Schrotflinte beenden. Zusätzlich laufen sie schnurstracks in jeden Hinterhalt - man stellt seine Truppe in den Überwachungmodus und zielt auf einen Gang. Einer läuft los, ruft "Hey, hier rüber!", alle kommen hinterher und verwandeln sich im Kugelhagel zu Matschehaufen.

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Die größte Frustrationsquelle sind aber Türen. Hinter geschlossenen Türen verstecken sich immer wieder Feindbegegnungen, denen man nicht ausweichen kann. Aber selbst wenn man es riecht, darf man seine immer treudoof hinterher trottende Truppe nicht schon einmal weise im Raum verteilen. Da Gegner meist den Kampf beginnen, passiert es nicht selten, dass ein Feind im ersten Zug eine Hochexplosiv-Granate in die Mitte aller Charaktere wirft und der Spieler die nächste Runde erst einmal damit verbringt, Medikits zu verbrauchen und seine Leute zu verteilen - falls nicht einer der körperlich schwächeren Runner sofort abgenippelt ist. Zuletzt ist das Journal dermaßen knapp gehalten, dass man darin nicht mal den Inhalt des aktuellen Hauptauftrags nachlesen kann, falls man es nach einer Woche Pause einmal vergessen haben sollte. Das hätte alles wirklich nicht sein müssen und es ist schade, dass sich Harebrain Schemes solche Patzer erlaubt hat.

And never, ever, cut a deal with a dragon.
Keinen Grund zum Mosern lassen dagegen Aufmachung und Story. Die Bewohner des Kreuzbasars und die vielen NPCs der Missionen sind so gut geschrieben, dass man sie über die vielen Dialogoptionen am liebsten bei einem abendlichen Drink in der Bar näher kennen lernen würde. Es sind enorm viele (zu recht) bekannte Charakter-Archetypen dabei, die aber so blumig ausgeschmückt worden sind, dass sie wie die frischesten Rosen im Bouquet duften. Allein im Kreuzbasar lohnt es sich, nach jedem Run einmal die Runde zu machen, um etwa mit dem türkischen Cafébesitzer Burakgazi zu plaudern oder den Ork von der Heilsarmee, Sebastian Beckenbauer, mit einer kleinen Spende beim Aufbau seiner metamenschlichen Hilfsorganisation zu unterstützen. Zwar fehlt es dem Spiel an einer Sprachausgabe, aber die klasse geschriebenen Texte lassen da eigentlich nichts missen.

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Höhepunkte der Interaktionen sind natürlich die Unterhaltungen mit dem eigenen Team. Man kann seine Kameraden aufbauen, sich mit ihnen zoffen, sie missverstehen oder ihr vollstes Vertrauen gewinnen. Einige persönliche Charaktergeschichten gingen mir dabei tief unter die Haut. Allgemein versteht es auch die Hauptgeschichte, sehr viel Spannung über einen großen Zeitraum aufzubauen und sie in einem furiosen Finale mit Karacho abzubrennen. An nicht wenigen Stellen saß ich aufrecht im Stuhl, während ich mich durch die Textpassagen klickte.

Shadowrun: Dragonfall ist definitiv eines der besseren westlichen Taktik-Rollenspiele, die Moderne mit Klassik in einem stylischen und unverbrauchten Setting gekonnt verknüpfen. Leider verstauchen einige Kampfsystem-Schwächen der Wertung letztendlich ein wenig die Cyberbeine. Wer Mass Effect 2 im Shadowrun-Setting mit Fallout-Kampfsystem spielen möchte, der findet mit Shadowrun: Dragonfall genau den richtigen Mix.

Shadowrun: Dragonfall wurde auf dem PC getestet. Für den Test hat sich der Redakteur das Spiel selbst gekauft.

Shadowrun: Dragonfall

(Ranking)
A
RANK
Reife Leistung. A-Spiele machen alles richtig oder sind nah dran. Kleine Schwächen werden durch Stärken mehr als wett gemacht. Das ist Spieldesign auf hohem Niveau.

Kommentare

Philipp
Gast
15. Juni 2015 um 15:30 Uhr (#1)
Freut mich, dass ihr das Spiel jetzt noch gewürdigt habt. Habs 2-3 (2x den Standalone Directors Cut und 1x das Addon) mal durchgezockt und war auch sehr begeistert.
Unabhängig von den zusätzlichen Teammitglieder-Missionen war es aber schade, dass der dem Kiez neu hinzugefügte Weinkeller lediglich für 2 Gespräche genutzt wurde. Wenn man schon so einen Szenetreff hinzufügt, sollte er auch für mehr genutzt werden.
Inhaltlich ist es hier und da etwas mager, aber insgesamt wissen vor allem das Setting und die Mitstreiter zu überzeugen. Die vielen möglichen Enden, die gegenüber dem Originaladdon noch erweitert worden, sind auch klasse.
Rian
15. Juni 2015 um 23:08 Uhr (#2)
Stimmt, ich bin auch immer in den Weinkeller gegangen und Lucky Strike war total ungesprächig. :C
Gast
19. April 2024 um 08:30 Uhr
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