Sunless Sea im Test

(Artikel)
Paul Rubah, 23. Februar 2015

Sunless Sea im Test

Beginne jede Überfahrt, als wenn es deine letzte wär

Schwarz wie Obsidian und unergründlich. Durch den glatten Ozean ohne Gezeiten zieht ein Dampfschiff seine Furche. Neben ihm spiegelt sich das fahle Licht der falschen Sterne, bevor die Bugwellen es verschlucken. Im Leuchtkegel vor dem Schiff ziehen kleine graue Flocken lange Schatten. Schnee. Oder Asche. Hinter dem Schiff folgt die ewige Nacht. Kein Geräusch, nur die Schritte auf dem metallischen Deck und das Arbeiten der Schiffsschraube. Ab und zu zerreißen lederne Fledermausschwingen die Ruhe. Oder ein schnell verhallender Schrei in der Ferne. Die Matrosen arbeiten weiter.

Doch dann halten sie inne. Es prasselt aufs Deck. Kleine Steine spielen ein Staccato. Dann ein gähnender Klang über dem Schiff, der einem das Gefühl gibt, er würde Leere hinterlassen. Der erste Offizier weiß, was nun kommt. Er schreit: "Zur Seite!" Keine Sekunde später zerschmettert der abgebrochene Stalaktit einen Matrosen. Das Schiff schaukelt. Der junge Mann hat erst im letzten Hafen angeheuert. Es war seine erste Überfahrt. Jetzt ist es seine letzte. Die Untersee hat ein weiteres Leben genommen. Sie soll es haben. Die Matrosen beseitigen die Bruchstücke, schmeißen alles über Bord, was sich nicht mehr bewegt. Das Schiff darf nicht nach Blut riechen. Die Kreaturen wittern Blut. Der schwarze Ozean ohne Gezeiten verschluckt das letzte Stück. Die Matrosen gehen wieder an die Arbeit. Im nächsten Hafen füllt ein neues Gesicht den freien Posten.


Sunless Sea ist ein Spiel für Freunde nicht-euklidischer Geometrie, gefüllt mit bizarren Geschichten. Im 19. Jahrhundert wurde London von Dämonen-Fledermäusen angegriffen und versank. Irgendwie hat die Stadt einen kilometertiefen Fall überlebt. Was sich den Bewohnern Fallen Londons zeigte, war ein pechschwarzer Ozean unter der Erde. Viele Jahre vergingen, bevor die Londoner einen Weg an die Oberfläche fanden. Doch inzwischen sind die Menschen unter Tage ein eigenes Volk, dem Sonnenlicht Schmerzen bringt. Statt also wieder in die normale Welt zurück zu kehren, machen Seekapitäne im Unterreich mit Handel und dem Erbeuten seltener Kleinode und Ressourcen ihr Glück. Die Erfolgreichen unter ihnen führen ein wohlhabendes, wenn auch kurzes Leben. Alle anderen führen nur ein kurzes Leben.

Zwischen Baum und Borke
Wie durch diese üppige Einleitung klar werden sollte, ist Sunless Sea enorm narrationsgetrieben. Der Spieler übernimmt ein kleines Dampfschiff und gondelt von Hafen zu Hafen, immer in der Hoffnung, dass ihm etwas Gutes widerfährt. Jeder Hafen bietet eine Vielzahl von Geschichten für viele Stunden Unterhaltung, wobei Failbetter Games nicht müde wird, gratis immer noch weitere Geschichten nachzureichen. Jede Geschichte ist mit Entscheidungen und dem einen oder anderen cthulhuiden Schrecken versehen. Nicht selten kommt es vor, dass man für Profit oder das Leben eines Offiziers ein niederes Crewmitglied opfern muss, wenn die eigenen Charakterstatistiken nicht stimmen. Und die stimmen nie, denn von den fünf Werten, die die Erfolgschancen der Wahlmöglichkeiten verbessern können, darf sich der Spieler nur eine als Spezialisierung aussuchen. Alle anderen befinden sich auf mickrigem Niveau und steigen nur quälend langsam und mühselig. Und wehe euch, wenn ihr eine Wahl treffen müsst, in der euer Fachgebiet nicht vorkommt.

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Jeder Hafen in Sunless Sea bietet eine eigene Atmosphäre, gestützt durch kleine Flavortexte, wunderschöne topologische Grafiken und einzigartige Musikstücke. Sonderbare, hallende Töne begleiten den Eintritt ins surreale Korallenreich um Port Cecil, während in den Piratengefilden der Katzeninseln Shanties ertönen. Fortgeschrittene Spieler erkennen ohne das Konsultieren einer Karte, wo sie sich in der Welt befinden. Und nach einer langen Reise ist nichts schöner, als wenn man mit einer prall gefüllten Ladebucht die Musik von Fallen London hört, bevor die Stadt auf dem Bildschirm erscheint. Zu Hause. Wieder mal überlebt.
Schade ist da nur, dass viele der in anspruchsvollem Englisch verfassten Texte unter einem enormen Kurzwahn leiden. Ich freute mich immer unheimlich, wenn ich eine neue Stadt entdeckte - über die ich dann aber kaum etwas erfuhr, denn jede Location bekommt nur einen einzigen Absatz Beschreibungstext spendiert, der mal mehr und mal gar nichts über den Ort sagt. Hier hätte ich mir eine Enzyklopädie gewünscht, in die ich mich wirklich hätte reinschmökern können.

Der Zweck heiligt die Mittel
Wenn es ums Überleben geht, rückt Moral an zweite Stelle. Geld ist ein knappes Gut und irgendwie soll ja die Crew gefüttert werden (sonst isst sie sich gegenseitig) und der Sprit wächst auch nicht auf Bäumen. Da muss man sich auch schon mal zum Schmuggeln entscheiden. Oder dazu, in die andere Richtung zu schauen, wenn Unrecht geschieht. Oftmals hat man aber nicht mal die Wahl, das "Richtige" zu tun. Dann gibt es kein Gut oder Böse. Dann kann man nur abwägen, was wohl das geringere Übel ist und muss mit der Entscheidung leben. Oder auch nicht.

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Denn der Tod lauert an jeder Ecke in Sunless Sea. Crewmitglieder können durch Zufallsbegegnungen oder in Kämpfen sterben. Besonders bitter ist es, wenn die persönliche Geschichte eines Offiziers eine schlechte Wende nimmt und er dadurch umkommt oder das Schiff verlässt. Offiziere sind nämlich Unikate und verbessern die ansonsten so minderbemittelten Fähigkeiten der Spielfigur deutlich. Aber der Tod der Crew ist noch ein gnädiger Ausgang. Riesige Monster können ihre gigantischen Körper gegen den Schiffsrumpf rammen und unser Gefährt versenken. Um den direkten Kampf mit zu meiden, muss der weise Kapitän zur rechten Zeit die Scheinwerfer abschalten. Allerdings wächst dann auch der Terror wesentlich schneller. Jede Sekunde in der Dunkelheit lässt die Angst wachsen. Ist die Terrorleiste voll, ist es aus. Aber auch Werte jenseits der fünfzig Prozent sind schon schlecht für unsere Gesundheit und sorgen für Albträume.

In der Untersee sind Albträume keine Späße, die man mit einem Glas warmer Milch vertreibt. Albträume haben eine direkten Draht zu namenlosen Schrecken und können physische Wunden in der realen Welt hinterlassen. Und die wird man kaum bis gar nicht los. Drei Wunden, und das Spiel ist gelaufen. Und dann sollte einem auf hoher See natürlich niemals der Proviant ausgehen und ohne Benzin bei konstanter Flaute ist auch schlecht. Sollte ein Kapitän dann einmal das Zeitliche segnen (und eure erste Figur wird definitiv die See von unten betrachten), dann kann er immerhin einen Teil seines Vermögens an seinen Statthalter vererben. Je mehr man in sein Anwesen und ins Testament steckt, desto mehr wird letztendlich übertragen, wenn die drei alten Götter der Nacht nach dem Spieler rufen.

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Im Schneckentempo durch die Untersee
Die größte Schwäche von Sunless Sea ist sein saulangsames Tempo. Selbst wenn man nach Stunden und Stunden des Spielens genug Geld zusammengekratzt hat, um sich einen besseren Schiffsmotor leisten zu können, sind die Wege zwischen den vielen Inseln unerträglich lang. Insbesondere wenn man eine Route mehrfach abfahren muss, um genügend Geld für eine Expedition in unbekannte Gefilde finanzieren zu können, schlaucht Sunless Sea ungemein. Feinde sind auch kein Grund für Spannung, denn man weicht ihnen in der Regel ohnehin eher aus als ihnen die Stirn zu bieten. Man kann sie zwar auch bekämpfen und das geht im neuen Echtzeitkampfsystem auch viel schneller als mit dem alten rundenbasierten System - nichtsdestotrotz lohnt sich der Aufwand oft nicht und ist mordsgefährlich. Zumindest gegen Unterseekreaturen.

Feindliche Schiffe sind dagegen mit der dümmsten KI der Welt beschlagen - hat man sich einmal hinter den Gegner manövriert, kann er unser Schiff nicht mehr ins Visier nehmen und wir müssen ihm nur noch im Kreis hinterher fahren und so lange ins Heck ballern, bis er sinkt. Manchmal fahren sie auch gegen Bojen und bleiben stecken. Das macht weder Spaß, noch rechnet sich die Plünderung mit dem verbrauchten Sprit. Insgesamt kann man Sunless Sea wohl gut zehn bis zwanzig Stunden spielen, bevor man sein uriges Dampferchen einmal vollständig upgraden konnte. Und lasst uns nicht davon sprechen, ein neues Schiff zu kaufen - die Preise sind gruseliger als die Träume des schlaflosen Maschinisten.

Sunless Sea bietet ein tolles Konzept, das vor allem storysüchtigen Lovecraftfans in den ersten Stunden viel Spaß bringen sollte. Wer allerdings wirklich etwas mit dem Spiel anfangen will, sollte sich selbst zu den engelsgeduldigen Marathonläufern unter den Videospielern zählen, denn Sunless Sea ist alles - aber kein schnelles Spiel.

Sunless Sea wurde auf dem PC getestet. Der Autor hat sich das Spiel selbst gekauft.

Sunless Sea

(Ranking)
B
RANK
Anständig. Stärken und Schwächen halten sich die Waage. Positive Überraschungen sind genauso selten wie negative. Unterm Strich muss man seine Spielzeit keinesfalls bereuen.

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06. Februar 2015
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