Gone Home

(Artikel)
Benjamin Strobel, 03. Juli 2014

Gone Home

Ein Experiment wird zum Wegweiser

Gone Home ist ein Download-Titel von 2013. Die Entwickler des Spiels nennen es selbst ein Story Exploration Game. Klingt irgendwie merkwürdig, aber der Erfolg des Spiels spricht für sich. Der Geheimtipp aus dem letzten Jahr erscheint jetzt in einer hübschen Pappschachtel mit vielen Extras und dem Spiel ohne Kopierschutz auf Disc. Wenn man das Cover des Spiels aufklappt, kommen einem zahlreiche Auszeichnungen entgegen: Game of the Year (Polygon), Best Story (IGN) und Best Narrative Game (PC Gamer) sind nur eine Auswahl. Was hat es mit diesem Gone Home auf sich?

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Stellt euch vor, ihr kommt nach Hause und niemand ist mehr da. Eure Eltern, euer Freund oder Frau und Kinder - einfach weg. Nicht mehr als eine flüchtige Notiz an der Tür, die gerade so erklärt, was schon offensichtlich ist. Alle sind weg. Gone Home lässt euch in die Rolle von Kaitlin Greenbriar schlüpfen, die gerade diese seltsame Situation erlebt. Das ist schon die einzige Exposition, die das Spiel für euch macht. Der Rest liegt an euch.

Es ist eines dieser Spiele, das unser herkömmliches Verständnis davon, was ein Spiel ist, an seine Grenzen bringt. Gone Home macht etwas radikal anders als all die großen Spiele, die in einer Flut aus Kampf, Tod, Explosionen und Cutscenes auf uns hereinbrechen. Gone Home hat keine Waffen und keine Gewalt, es hat keine Cutscenes und keine aufwändig animierten Figuren. Gone Home hat vieles von dem nicht, was für uns heute zu dem gehört, was wir Spiel nennen. Doch eines hat es: eine Geschichte zu erzählen.

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Ich betrete das Haus, das Licht geht an. Wie gesagt, es ist niemand da. Ich gehe behutsam durch die Eingangshalle, werfe einen Blick ins Badezimmer, in die Kammer, schalte eine Tischlampe ein. Es ist still. Ich bleibe neugierig und schnüffele weiter durch die Wohnung. In einem Schrank finde ich die Arbeitskleidung von Kaitlins Mutter, daran einen Arbeitsausweis und ein Bild. Auf einem Tisch liegt ein Lieferschein, daneben stehen noch ein paar Kisten. Auf dem Papier lese ich, was der Umzugsservice gebracht hat. Familie Greenbriar ist wohl kürzlich erst eingezogen. Das macht die eine große Frage umso drängender: Wo ist sie hin?
Gone Home erzählt eine Menge durch die Umgebung, durch kleine Gegenstände, die herum liegen und manchmal auch dadurch, dass etwas fehlt. Diese Art zu erzählen ist nicht aufdringlich, sie ist subtil und wirklich. Es gibt keine Cutscenes, die einem vorspielen, was passiert ist, oder Erinnerungen, die sich als Video aufdrängen. Alles, was die Geschichte erzählt, ist ein realer Teil der Welt, in der sie spielt. Wie tief man in sie eintaucht, hängt ganz von der eigenen Neugier ab und davon, was man sich ansieht. Gone Home nutzt die einzigartigen Möglichkeiten des Mediums und lässt seine Geschichte durch den Spieler entfalten, der sich frei in dem großen Haus bewegt und wie eine Motte von Licht zu Licht schwirrt, wenn er etwas Interessantes sieht. Vielleicht interessieren mich die Post-Its an der Pinnwand, vielleicht interessiert mich der Job von Kaitlins Mom. Für den neugierigen, explorierenden Spieler ist all das bereit gelegt, er muss es nur entdecken. Die Interaktivität ist extrem hoch, so dass man fast jedes Objekt im Haus benutzen oder aufheben kann, um es näher zu betrachten. Ich gebe zu, dass ich den Badezimmer-Schrank geplündert habe. Das Klopapier liegt jetzt im Flur...

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Auf den Spuren der verschollenen Familie, erfährt man einiges über sie - auf ungewohnte und beeindruckende Art und Weise. Wie es Kaitlins Schwester nach dem Umzug auf ihrer neuen Schule ergangen ist, hätte man auf tausend Weisen erzählen können. Ein Flashback, man sieht, wie sie unglücklich am Schulhofrande steht. Oder ein Tagebuch, in dem sie schreibt, wie doof der erste Tag war. Gone Home ist an keiner Stelle so plump und bringt doch mit klarem Ausdruck auf den Punkt, was es zu sagen gibt. Es genügt sich nicht damit, dass man ein Schriftstück findet und einfach nachliest, was geschehen ist. Das Spiel streut seine Hinweise mit Geschick. Im Schulrucksack von Sam, Kaitlins Schwester, hängt ein Blatt heraus. Eine Liste mit Dingen, die am ersten Schultag mitzubringen sind. Alles ist ausgestrichen - Stifte, Ordner, Hefte - alles bis auf eins: gute Laune. Mit nur einem Blatt erzählt Gone Home eine ganze Geschichte. Man erfährt hier nicht nur, dass Sam mit der neuen Schule unzufrieden war. Das Entscheidende ist etwas Anderes: Wie trotzig sie ihren Unmut zur Schau stellt, indem sie die "gute Laune" nicht ausstreicht, gibt ihr Charakter und formt sie als Figur. Und das entdeckt man einfach so, findet es heraus, während man durch das Haus wandelt. Vielleicht sieht man es gleich, vielleicht später, vielleicht schenkt man diesem Detail viel Aufmerksamkeit oder legt es gleich wieder weg. Damit weicht Gone Home von klassischen Erzählmustern des Films ab, die so häufig in Spiele übernommen werden. Der Spieler kann sich ansehen, was er möchte, und sich Zeit nehmen. Daraus folgt ein ganz anderer Flow als man ihn aus anderen Spielen - oder Filmen - kennt. Man denkt und fühlt im eigenen Tempo - und wie man sich die Figuren dabei vorstellt, die Eindrücke auf sich wirken lässt, spielt eine große Rolle dabei.

Zu weiterer Größe kommt Gone Home durch eine Vielzahl von Referenzen an die Popkultur der Neunzigerjahre, zu deren Zeit es spielt. So findet man im Fernsehschrank eine beachtliche Sammlung von Akte-X-Videokassetten und kann hier und dort eine Audiokassette in alte Abspielgeräte einlegen, um sich Neunzigerjahre-Rock reinzuziehen. Die sorgsam gewählten Details der Spielwelt versetzen einen subtil aber deutlich ins vorletzte Jahrzehnt. So lassen sich auch einige Kassetten für den Super Nintendo finden, der selbst auch eine Gastrolle in der Geschichte des Spiels einnimmt.

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An dieser Stelle bin ich stolz auf mich, dass ich spoilerfrei bis zum letzten Absatz gekommen bin. Gone Home ist ein Spiel, das jeder spielen, eine Erfahrung, die jeder machen sollte. Ein Durchgang dauert nur wenige Stunden, aber das macht nichts. Ich möchte niemandem das großartige Erlebnis nehmen, die Geschichte von Gone Home langsam zu entdecken und zu sehen wie sie sich vor einem entfaltet. Es ist eine Geschichte in der Form eines Spiels und es ist ohne Frage ein großer und wichtiger Schritt für das Medium. Literatur muss nicht länger geschrieben oder gelesen werden - man kann sie nun auch spielen. Ben

Gone Home

(Ranking)
S
RANK
Herausragend. S-Spiele erweitern Horizonte. Sie bieten intensive Erlebnisse oder halten den Spieler noch lange am Bildschirm gefesselt. Selbst wenn man sie nicht jedem empfehlen kann, will man doch mit jedem über sie reden.

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RELEASE
15. August 2013
PLATTFORM
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PC
Plattform - PC-Spiele haben mit die älteste Tradition. Heutzutage laufen die meisten Games unter dem Microsoft Windows.

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