Titanfall

(Artikel)
Haris Odobašic, 19. März 2014

Titanfall

Der neue Genre-König kommt vom Himmel gestürzt

Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir schreiben das Jahr 2000, als mein 11-jähriges Ich eine Herbstausgabe der Gamestar erwarb, auf deren Beilage-CD ein Spieletrailer lauerte, welcher mein gesamtes Zockerleben verändern würde: Halo. In einer Zeit, als viele Ego-Shooter sich noch als möglichst stumpfe Ballerei inszenierten -- mit Half Life als großer Ausnahme -- machte Halo mit seinem Universum neugierig, versprach eine epische Story und lockte mit dem Master Chief als verdammt cooler Sau. In den nächsten Wochen lief dieser Trailer in Dauerschleife und mit jedem Replay verstärkte sich das Gefühl nur noch mehr, etwas Besonderes gesehen zu haben. Eine Erfahrung, so intensiv, dass ich tief in meinem Inneren wusste, dass sie alle anderen Shooter in den Schatten stellen würde. Im Vergleich zu Halo wirkten aktuelle Blockbuster, wie Perfect Dark und Unreal Tournament alt, einfallslos, antiquiert. Es konnte kein Zweifel bestehen: Halo war die Zukunft der Ego-Shooter. Dieses Gefühl sollte ich danach dreizehn Jahre lang nicht mehr haben, bis zur E3-Pressekonferenz von Microsoft letztes Jahr und ihrem Schlusspunkt: Titanfall.

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Es war eine Pressekonferenz, die von Spielen – guten Spielen – dominiert wurde, doch sie sollten alle verblassen im Angesicht der Weltpremiere von Titanfall. Ein cinematischer Trailer sorgte für Stimmung, ehe eine Runde live gespielt wurde. Und wieder war für mich sofort klar: was sich vor meinen Augen abspielte, war die Zukunft. Während eigentlich alle großen Multiplayer-Shooter in ihren neuesten Iterationen vor allem mit Stagnation glänzten, versprach Titanfall wie ein frischer Wind über die Spielelandschaft zu fegen. Und ich war nicht der Einzige, der diesen Eindruck gewonnen hatte, denn je mehr von Titanfall der Öffentlichkeit gezeigt wurde, desto größer wurde auch der Rummel um den Mech-Shooter: Gamescom, Alpha- und Beta-Versionen halfen allesamt, mehr Leute zu konvertieren, und machten den Titanfall-Launch zu einem der meisterwarteten in der jüngeren Spielegeschichte. Ich muss ehrlich zugeben, dass es mich nach dem ganzen Hype nicht überrascht hätte, wenn beim Öffnen der Spieleverpackung neben mir ein Titan aus den Wolken gestürzt wäre. Doch diese leichte Enttäuschung und gleichzeitige Freude darüber, dass mein Wohngebäude nicht dem Erdboden gleich gemacht wurde, musste der Neugier weichen, ob nach neun Monaten der Vorfreude Titanfall die gigantischen Erwartungen erfüllen kann.

Die Rahmenhandlung ist dabei eher generischer Sorte: In ferner Zukunft existiert die Frontier, eine Sammlung von Kolonien am Rande des erforschten Universums, die reich an Ressourcen sind. Diese Ressourcen haben die IMC angelockt, ein großes Unternehmenskonglomerat, welches auf diese Bodenschätze aus ist und sie sich gerne einfach nehmen würde. Dem entgegen steht nur die Militia, die zivile Verteidigungsmiliz der Kolonien, die sich aus Zivilisten und ehemaligen IMC-Soldaten rekrutiert und verbittert ihren Besitz verteidigt. Ihr kämpft nun zufällig immer für eine der zwei Seiten, auch wenn das im Spiel an sich keinen Unterschied macht – beide Parteien steht die gleiche Ausrüstung zur Verfügung. Hier und dort wird zwar etwas mehr Tiefe bei der Story angedeutet, die Titanfall nicht zum absoluten 08/15-Produkt in diesem Bereich machen, aber der Multiplayer-Fokus des Spiels hat wohl verhindert, dass gerade die emotionalen Verwicklungen zwischen den Hauptcharakteren weiter ausgearbeitet werden konnten.

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Doch zum Glück hat die schwache Story keinen Einfluss auf die Qualität des Spiels, welches eine Menge Stärken zu bieten hat, die schon in den ersten Spielsekunden ersichtlich werden. So sind selbst die kleinsten Aktionen in Titanfall unheimlich befriedigend. Das fängt schon beim simplen Fortbewegen an: In keinem anderen Shooter hat man so viel Spaß, über die Karte zu navigieren. Das robuste Free-Running-System, bei dem euer Charakter kontextsensitiv auf Wände (um daran entlangzulaufen) und Kanten (um sich festzuhalten) reagiert, setzt euch fast keine Grenzen und ermöglicht es, die 15 Maps auf ganz eigene Art und Weise zu erforschen. Eine normale Shooter-Map hat man meist nach einigen Runden vollkommen im Blut, kennt jedes lange Ende und jeden Camping-Spot beim Namen, und es stellt sich Routine ein. Da die Karten in Titanfall aber eben darauf ausgelegt sind, dass Vertikalität mehr bedeutet als aus dem Fenster im zweiten Stock zu snipern, bieten sie viel mehr Platz und es dauert bedeutend länger, bis man seine Umgebung wirklich beherrscht. Alleine schon, weil durch das Bewegungssystem der Kreativität der Spieler kaum Grenzen gesetzt sind. So kann man sich an quasi alle Wände festhängen und hat plötzlich eine ganz neue Schussposition erschaffen, um seine Feinde zu überraschen. Besonders fies in Kombination mit der Unsichtbarkeitsfähigkeit!

Der Kontrast zum agilen Rumgehüpfe ist das Aktivieren des namensgebenden Titanfalls, wodurch ein Titan an einen Punkt eurer Wahl kracht und bestiegen werden kann. Denn plötzlich ist man in einem haushohen Gefährt unterwegs, Dächer und Schlupfwege werden unpassierbar. Sitzt man im Titan, sieht man die Karte mit komplett anderen Augen, man hat schon fast das Gefühl, dass jede Map eigentlich eine Doppelfunktion hat: die Karte für Piloten und die Karte für Titans. Andererseits hat man eben auch die Macht, die man von so einem Gefährt erwarten würde: viel Durchschlagskraft und eine dicke Panzerung, die euch momentan vergessen lässt, dass ihr nun nicht mehr ein Meister des Parkour seid, sich aber fast ähnlich befriedigend anfühlt. Je nach Lust und Laune erfüllt euch Titanfall gleich mehrere Allmachtsfantasien. Wenn man nun diese zwei doch sehr distinktiven Spielmöglichkeiten gegenüberstellt - zu Fuß oder im Sitz eines Titans -, dann ist der vielleicht größte Triumph von Respawn Entertainment, dass sie gerade dieses brisante Duell einfach perfekt ausbalanciert haben.

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Natürlich, auf dem Papier ist der Titan weitaus mächtiger. Wo er zuschlägt oder hinläuft, ist der Pilot Matsch, auch seine Waffen zeigen sich im direkten Vergleich als übermächtig. Und doch kann jemand, der die Möglichkeiten von Titanfall voll ausnutzt, als wendiger Pilot Wege finden, es sogar mit mehreren Titanen aufzunehmen. Eine Anti-Titan-Waffe, die man immer dabei hat, ermöglicht es euch Schaden anzurichten, der weit über Mückenbisse hinaus geht, während besonders mutige Piloten sich einfach auf das Dach eines Titanen schwingen, um ihm direkt in den Maschinenraum zu feuern. Dann ist man zwar ein offenes Ziel für andere Piloten, aber der Titan, auf dem ihr Rodeo reitet, muss schon das richtige Loadout eingepackt haben – eine Giftwolke –, um die Klette einfach los zu werden. Es fällt wirklich schwer zu sagen, dass nun das eine dem anderen überlegen wäre, und das ist großartig für das Spiel. Egal ob man als Pilot spielt und seinen Titan im Autopiloten werken lässt oder sich selbst hinter das Steuer schwingt, Titanfall lässt euch mit jedem Spielstil glücklich und erfolgreich sein.

Sowieso ist eine echt gute Spielbalance ein Aspekt, welcher sich durch das gesamte Produkt zieht. Eigentlich alle der 15 Karten sind so gut designed, dass ich nach mehreren Dutzend Spielstunden noch keine wirklichen Lieblings- oder Hasskarten ausmachen konnte. Der Epilog am Ende einer jeden Runde gibt selbst den Verlierern die Chance, mit einem positiven Gefühl aus der Runde zu gehen, indem sie es rechtzeitig zum Evac-Punkt schaffen ohne abgefangen zu werden. Und sich bei der Spielerzahl auf sechs gegen sechs zu beschränken wurde zwar im Vorfeld kontrovers diskutiert, stellt sich aber als wohl einzig richtige Entscheidung heraus. Denn in-game merkt man gar nicht, dass man nur gegen sechs Gegner antritt. Ermöglicht wird das durch die Popcorn-KI, die das Schlachtfeld mit Leben füllt. Selbst wenn mal ein die Session verlässt, fällt das nicht mal unbedingt auf.

Die Popcorn-KI war auch etwas, was vorher kritisch beäugt wurde und sich nun als richtiges Highlight herausstellt. Gerade Anfänger freuen sich über die leicht zu bezwingenden Feinde, da sie den Eindruck machen, jahrelang in zwei Disziplinen trainiert worden zu sein: schlecht schießen und schnell sterben. Sie sind allerdings nicht vollkommen nutzlos: unvorsichtige Spieler werden irgendwann auch die Schande erleben, von einem Fußsoldaten erlegt zu werden. Doch sie soll euch nicht nur ein positives Gefühl dadurch geben, dass ihr regelmäßig etwas killt - die Popcorn-KI hat auch einen wirklichen Einfluss auf das Spielgeschehen. Ihre ständige Kommunikation belebt nicht nur das Kampfgeschehen, sondern ist ein taktischer Vorteil, weil die Dialoge der Pappkameraden auch gerne Hinweise zu drohenden Gefahren bieten. Zudem lohnt sich das Farmen dieser Fußsoldaten: wer sie abknallt, senkt die Zeit bis zum nächsten Titanfall oder dem Freischalten der speziellen Titan-Fähigkeit, außerdem bringen sie in manchen Modi Punkte, die am Ende den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen können.

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Eine weitere Neuerung, die aber nicht ganz zündet, ist der Kampagnen-Multiplayer. Hier spielt man in Multiplayer-Matches gegen andere Spieler, allerdings werden diese Partien durch längere Intro- beziehungsweise Outro-Sequenzen definiert und den Spielverlauf dominieren regelmäßige Funksprüche. Dass diese eigentlich gute Idee, Story und kompetitiven Multiplayer zu verbinden, nicht zündet, liegt primär an zwei Problemen. Einerseits ist es schwierig, die Story wirklich im Spielverlauf wahrzunehmen. In einem Einzelspieler-Titel ist es durchaus möglich, mal eine Minute Pause einzulegen, um einem Dialog zu lauschen, doch wenn an jeder Ecke Titans vom Himmel stürzen und Piloten über Dächer huschen, muss man irgendwann die Entscheidung treffen, ob man sich auf die Action oder die Story konzentrieren will. Andererseits ist das, was in den Missionen passiert, vollkommen belanglos, denn ob ihr gewinnt oder verliert und wie ihr euch schlagt, ist total egal - die Story folgt einer strikt linearen Struktur, die sich durch nichts aus der Fassung bringen lässt. Wer also wirklich will, kann die insgesamt 20 Missionen, jeweils 10 auf Seiten von IMC und Militia, auch als Pazifist absolvieren. Überspringen ist aber keine wirkliche Option, denn wer Lust hat, seinen Atlas-Titan mal ruhen zu lassen, um den dicken Ogre oder den wendigen Stryder auszuprobieren, muss erst die Kampagne beenden, um diese zusätzlichen Chassis freizuschalten.

An vielen Stellen hat man den Eindruck, dass Titanfall das erste richtige Next-Gen-Spiel ist, abgesehen vom Bereich, wo es am offensichtlichsten gewesen wäre: der Grafik. Basierend auf einer geupdateten Version der Source-Engine, ist das Endresultat zwar keine Augenweide -- manche der Launchtitel im Herbst sahen besser aus -- enttäuscht aber auch nicht. Das hohe Spieltempo hilft hier eine Menge zu kaschieren. Weil sowieso dauernd was los ist, hat man keine Zeit, den Blick länger als Sekundenbruchteile auf matschige Texturen oder etwas detailarmen Polygon-Soldaten ruhen zu lassen. Für die Konsolenversion sind Patches geplant, die die grafische Qualität noch etwas hochschrauben sollen, aber die Priorität liegt ganz klar auf dem flüssigen Spielerlebnis und zumindest dieses Ziel wurde voll und ganz erfüllt: selbst wenn mehrere Titans sich effektvoll bekriegen, bleibt die Framerate stabil.

Außerdem - und es ist schade, dass das mittlerweile erwähnt werden muss bei einem Spiel dieser Art - funktioniert der Multiplayer einwandfrei. Von Kinderkrankheiten und Startschwierigkeiten, wie bei Battlefield 4, ist nichts zu spüren, und Microsofts Azure-Servertechnologie hält, was sie verspricht. Geringe Latenzen und schnelles Finden von freien Spielen sind hier der Standard.

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Auf der einen Seite ist Titanfall ohne Frage der wohl bisher beste Shooter. Er bringt nicht nur frische und gut umgesetzte Ideen mit, sondern ist vom Spielgefühl so nah an der Perfektion, wie noch kein Genrevertreter zuvor. Auch nachdem man Dutzende Stunden in den Multiplayer gesteckt hat, schaffen es die vielen Eigenheiten von Titanfall noch immer auf’s Neue zu begeistern.
Gleichzeitig ist es schwer zu sehen, ob und in wie weit Titanfall einen Einfluss auf andere Shooter haben wird, wie zum Beispiel Halo oder Call of Duty 4 es hatten. Denn fast alle Neuerungen, die Titanfall mit bringt - von der großen Bewegungsfreiheit über die KI-Gegner bis hin zu den Titans - sind in einem fremden Kontext nur schwer vorstellbar.

Dennoch: In der Summe sind die Macken, die Titanfall mitbringt, eigentlich nur Beiwerk. Hat einen das geniale Gameplay nämlich erst erfasst, fällt es schwer, sich über so was aufzuregen. Die Fehler werden egal, der Stundenzähler schnellt unaufhaltsam in die Hölle. Seid ihr Shooter-Veteran, dann müsst ihr Titanfall spielen, weil es im Genre König ist. Habt ihr das Genre hingegen über Jahre vernachlässigt und wollt schauen, was sich getan hat, dann führt an Titanfall kein Weg vorbei, weil es seit langer Zeit der erste Schritt vorwärts ist. Mögt ihr Ballerspiele sonst gar nicht und sucht nach dem einen Titel, der euch überzeugen kann - Titanfall ist am ehesten dieses Spiel, weil ihr auch als Noob Sachen erfolgreich abschießen werdet und den Eindruck habt, was beizutragen. Und wenn ihr mit dem Gedanken liebäugelt, eine Next-Gen-Konsole zu kaufen und euch der Kaufgrund fehlt: Eine Investition in ein Titanfall-Bundle ist eine Investition in Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Stunden Spielspaß auf allerhöchstem Niveau. Haris

Titanfall

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Herausragend. S-Spiele erweitern Horizonte. Sie bieten intensive Erlebnisse oder halten den Spieler noch lange am Bildschirm gefesselt. Selbst wenn man sie nicht jedem empfehlen kann, will man doch mit jedem über sie reden.

Kommentare

Ben
20. März 2014 um 10:36 Uhr (#1)
Sehr gutes Review, dem ich nicht viel hinzufügen kann. Ich würde mir allerdings mehr Spielmodi wünschen oder die Möglichkeit - wie bei Halo - angepasste Community-Modi zu spielen.
Rian
20. März 2014 um 19:07 Uhr (#2)
...Rocket Race mit einem im Titan und dem anderen als Rodeo-Reiter...
Ben
20. März 2014 um 19:50 Uhr (#3)
Titans VS Pilots! Titan Ricochet! Unbegrenzte Möglichkeiten!
blackmaniac
20. März 2014 um 20:20 Uhr (#4)
Ich hab mir das Titanfall Xbox One Bundle geholt, nur um mit meinen lieben Dpad kollegen zocken zu können. Ich bereue es nicht. Als ich das bestellt hab dacht ich mir "tja, dann hab ich jetzt wohl ne Xbox One"
Spricht zum einen für den Hype, zum anderen dafür, dass hier erstklassige ARbeit geleistet wurde
blackmaniac
26. März 2014 um 20:13 Uhr (#5)
Auf ein paar "Mängel" wurde ich dann doch aufmerksam gemacht.
Clansupport ist momentan nichtexistent. Man kann weder ein Clantag hinzufügen, noch irgendwie einen Clanwar starten. Wer gegen einen anderen Clan zocken will muss einfach das Glück haben, diesem in einem Random Spiel zugewiesen zu werden. Custom Matches mit eigenen Regeln usw. gibt es auch nicht. Jeder kann sich einfach in eine Lobby seiner Freunde einmogeln. Will man den nicht dabei haben, muss man darauf hoffen, dass er von selbst verschwindet, man kann niemanden aus der Party kicken.

Alles sachen, die mir nie aufgefallen sind, weil sie mein Spielgeschehen sowieso nicht beeinflussen. Dennoch erwähnenswert.
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