Postmortem: one must die

(Artikel)
Rian Voß, 05. August 2013

Postmortem: one must die

Seelenklauen schwer gemacht

Große Tragödien können klein anfangen: In einem Streit um die Inhalte des traditionell galizischen Feiertagsbrotes wird ein Bäcker von einem aufgebrachten Kunden erschossen. Das war der Tropfen auf dem heißen Stein der auseinander laufenden kulturellen und politischen Lager im fiktiven Staat Galicia, wodurch ein tobender Mob im später als "Bäckerrevolte" bekannten Ereignis auf die Straßen ging. Fast fünf Jahre später steht Galicia am Rande eines Bürgerkriegs zwischen liberalen Unternehmern und konservativen Traditionalisten. Und das Beste? Uns hat das alles gar nicht zu interessieren, denn wir spielen den Tod und unser Job in Postmortem: one must die ist es lediglich ein Lebenslicht zu löschen.

Postmortem 2013-08-04 14-19-28-58

Schon das Interview mit Postmortem-Designer Jakub Kasztalski gelesen?
Inspiriert von nicht-linearen, entscheidungsbasierten Titeln wie The Walking Dead und Home möchte Postmortem eine Ambiguität zum Thema Moral erzeugen. Als Avatar des Jenseits werden wir im Jahr 1897 in die Stadt Antrim geschickt, wo eine Benefiz-Gala stattfindet. Ziel der Spendensammlung ist es, eine galizische Schule zu renovieren, die vor Kurzem von unbekannten Aktivisten verwüstet wurde. Das war ein besonders harter Schlag für das ohnehin schon gereizte Klima zwischen den fortschrittsorientierten Newagern und den kulturfokussierten Oldagern, und führt nur dazu, dass sich die Parteien gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Wie wir im Spielverlauf erfahren können - entweder durch die Untersuchung von Paraphernalien oder im Gespräch mit den Gästen und Gastgebern -, steckt noch weitaus mehr in der fünfjährigen Zeitspanne des Konflikts. Wichtige Ereignisse werden in verträglichen Happen im Zeitungsformat präsentiert und übersichtlich in einem Journal gesammelt, welches sich automatisch aktualisiert, sobald man etwas Neues erfährt.
Im Laufe des Spiels entdeckt man so einiges über die verschiedenen Seiten und, wie es bei schwierigen Themen üblich ist, gibt es mehr als eine oder zwei Perspektiven. Im Gespräch mit den Gästen, die fast schon unanständig repräsentativ für die verschiedenen Lager sind, wird viel diskutiert: Technologie, Verlust der kulturellen Identität, Armut und Reichtum, Immigranten, Gleichberechtigung der Geschlechter, Aufstiegschancen des kleinen Mannes, Krieg, Diplomatie und Politik. Keiner der Gäste hat nur ein Extrem, dem er nacheifert, wodurch einen Figuren, die einem zuerst vielleicht sympathisch erscheinen, im weiteren Gesprächsverlauf überraschen. "Natürlich möchte ich Gleichberechtigung - aber doch nicht für Ausländer!" Und möglicherweise ist man auch ein bisschen über seine eigenen Antworten verwundert.


All diese Informationen tragen zur Erkenntnis bei, wen man letztendlich permanent von der Party entfernen soll, um Galicia einen Gefallen zu tun. Kann - muss aber nicht. Sobald man durch die Türen des großen Saals schreitet, kann man sofort jeden der fünf Gäste töten. Auch das ist eine Wahlmöglichkeit, schließlich ist nur das Chaos wirklich fair, wie Harvey Dent schon gesagt hat, und so richtig für menschliche Angelegenheiten muss man sich als überirdisches Wesen nun echt nicht interessieren. Es ist ganz lustig, zu sehen, was durch den Schnellschuss passiert und was nicht passiert, aber insgesamt ist dieser Ansatz emotional hohl, weil vollkommen konsequenzbefreit. Nichtsdestotrotz muss man hier dem Spiel eine hohe Integrität zugute halten, denn die emotionale Beteiligung soll letztendlich vollkommen Spielersache sein. Will man schnell einen Job erledigen, dann ist das wie eine Arztbehandlung, bei der man seinen Patienten mit einer Erkältung einmal routinemäßig röcheln lässt, ihm dann ein unleserliches Hustensaft-Rezept verschreibt, mit dem man in der Apotheke auch problemlos Morphium abholen könnte, und den Behandlungsraum wieder verlässt: Vollkommen nüchtern und professionell. Leider auch vollkommen langweilig. Für Langeweile sind wir aber nicht hier, also schnell rein in die Nachforschungen!

Postmortem 2013-08-04 14-52-34-98

Hier bietet sich nämlich die größte Stärke des Spiels. Nachdem man den Schock, dass es nur fünf Gäste und fünf Räume zu untersuchen gibt, überwunden hat, entfaltet sich die ganze Komplexität des Spiels erst beim zweiten Versuch: Nahezu alles, was man tut, in welcher Reihenfolge man es tut und was man unterlässt, hat in seiner Gesamtheit Auswirkungen auf den Spielverlauf. Vielleicht habe ich mich mit einem Gast zuerst unterhalten, dabei etwas über galizische Traditionen erfahren und kann diese Info in einem anderen Gespräch verwenden. Vielleicht sollte ich bei einigen Gästen heikle Themen einfach umschiffen. Und vielleicht sollte ich den Schlüssel zur Abstellkammer vielleicht sofort zurückgeben. Einige Handlungen können einflussreiche Gäste in ihren Meinungen zum Konflikt vielleicht umstimmen, andere sie gerade erst bestärken. Manche Gäste merken sogar, wenn man ständig in seiner Meinung schwankt und nehmen einen dann nicht mehr wirklich ernst. Egal, was man tut: Handlungen sind meist unwiderruflich - wer etwas ungeschehen machen möchte, muss zu einem Speicherstand zurückkehren oder von vorne anfangen.
Die größten Auswirkungen hat selbstverständlich die letzte Entscheidung: Wen werden wir töten? Und, ganz ehrlich: Je mehr man erfährt, desto zweifelhafter wird die Entscheidung. Wer das perfekte Ende unter den möglichen Ausgängen, die durch Zeitungsmeldungen der folgenden Tage und Wochen dargestellt werden, sucht, der kann lange herumprobieren: Schwarzweißdenken gibt es in Postmortem nicht und ein Todesfall kann mehr Wellen schlagen, als man denkt. Ich selbst konnte mich glücklich schätzen, als ich nach vielem Hin und Her die restliche Länge des Konflikts auf unter ein Jahr drücken konnte. Dafür musste aber auch der unschuldigste Mensch im ganzen Saal sein Leben lassen, was seinen ganz eigenen, bitteren Nachgeschmack hat.

Postmortem 2013-08-04 15-27-07-52

Künstlerisch betätigt haben sich für das Spiel Noah "Heartgear" Page und James Flynn. Beide Galerien sind sehr zu empfehlen.
Was in der Preview-Fassung, die mir vorlag, fehlte, waren mindestens drei Dinge: einmal ein spannendes Feature, mit dem man seine Entscheidungen mit anderen Spielern vergleichen können wird. Gute Sache! Das hat bei The Walking Dead auch schon Spaß gemacht. Zweitens fehlte noch der artistische Feinschliff - das kleine Anwesen sah teilweise noch ein bisschen geflickt aus. Und drittens: Mehr!
Das ist leichter verlangt als geliefert. Postmortem hat nur ein sehr kleines Team zur Verfügung, davon fast alles Künstler und Musiker. Kurzer Einschub: Die Titelmelodei, eine epische Umsetzung des britisch-amerikanischen Kinderliedes "Pop! goes the weasel" (siehe Trailer oben) von Kevin MacLeod, ist genial, passt vom Hintergrund her unglaublich gut und fügt sich mit den anderen, großartig gewählten, klassischen Stücken hervorragend ein.
Jedenfalls ist quasi nur eine Person dabei, sich die vielen Pfade zu überlegen; schon die Hinzunahme eines einzigen Charakters wäre mit einem explodierenden Aufwand verbunden und zu allem Überfluss ist das Spiel auch noch gratis. Immerhin verdienen die armen Menschen etwas Geld durch ein momentan geplantes Add-On mit einem weiteren Charakter, das Spendern zur als "Extended Cut" Verfügung stehen wird.

Postmortem 2013-08-04 14-18-08-89

Nichtsdestotrotz hat man das Gefühl, man müsste die Gala immer zu einem sehr abrupten Ende bringen, wenn man gerade erst warm mit den Gästen geworden, so richtig schön am Schwatzen war und es plötzlich nichts mehr zu tun gibt. Vielleicht hätte sich eine zeitliche Komponente angeboten, um ein oder zwei Ereignisse mit ein wenig Action und neuen Gesprächsthemen ins Spiel zu bringen. Oder wenn sich die Charaktere insgeheim auch untereinander unterhalten könnten und dadurch zu neuen Erkenntnissen kämen, die man dann wieder schamlos ausbeuten könnte. Oder wenn es persönliche Konsequenzen für einen hätte, wenn man sich trotz Warnungen in sterbliche Angelegenheiten einmischt - etwa in Form einer vom Arbeitgeber ausgeteilten, symbolischen Strafe.
Auch fehlen beliebte Features aus Visual Novels, wie etwa das automatische Überspringen von bereits bekannten Textsegmenten. So muss man halt doch ganz vorsichtig durch jede Textpassage springen, um nicht irgendetwas Neues zu verpassen.

Aber selbst wenn Postmortem: one must die nicht sein volles Potential ausnutzen kann, so kommt man doch mal wieder darüber ins Grübeln, wie kompliziert die Welt doch ist - selbst im erfundenen Galicia. Ich bin zwar allgemein kein Fan von Spielen, die es von vornherein darauf anlegen, dass man sie mehrmals mit kleinen Abwandlungen spielt (man denke nur an Home), bin aber gewillt für Postmortem eine Ausnahme zu machen - allein für die Aussicht auf Nachfolger mit noch mehr Freiheiten. Und weil es gratis ist und bleibt! Postmortem: one must die wartet übrigens auf sein grünes Licht bei Steam. Wenn ihr also denkt, dass das was für euch ist: Gebt den Daumen. Rian

Kommentare

Nils
06. August 2013 um 12:07 Uhr (#1)
Klingt definitiv nach einem Spiel, dass ich mal ausprobieren muss :D
Rian
15. August 2013 um 23:04 Uhr (#2)
Uuund inzwischen ist das Spiel raus: postmortemgame.com/download/
Gast
19. April 2024 um 19:00 Uhr
GASTNAME
E-MAIL (nicht öffentlich)
      
SICHERHEITSFRAGE
Mit wie vielen "d" schreibt sich "dailydpad"?
ANTWORT

Themen

Indie
Themengebiet
Vorschau
Sparte - Ist das Spiel gut? Wir wissen es noch nicht! Aber wir verschaffen uns einen ersten Eindruck.

Gefällt dir unser Artikel?

Spiele des Artikels

RELEASE
15. August 2013
PLATTFORM
PC
Plattform - PC-Spiele haben mit die älteste Tradition. Heutzutage laufen die meisten Games unter dem Microsoft Windows.

Ähnliche Artikel