Botanicula

(Artikel)
Rian Voß, 06. Mai 2012

Botanicula

Ein Fest für die Seele

Wenn man an das klassische Point-&-Click-Adventure denkt, wird man meist unter einer ganzen Lawine von Erwartungen begraben: Es muss witzig sein, es muss sympathische Charaktere haben, es braucht clevere Dialoge, einen grandiosen Soundtrack, der einen über Durststrecken hinweg hilft, es braucht ein bedienbares Inventar, muss einen tage- oder sogar wochenlang bei der Stange halten und die Rätsel müssen genau meinem Herausforderungsgrad entsprechen. Amanita Design bediente mit inzwischen weltbekannten Titeln wie Samorost und Machinarium viele dieser "Grundvoraussetzungen", doch wenn man die Spiele neben ein Day of the Tentacle stellen würde, könnten die Unterschiede kaum größer sein. Mit seinem neuesten Werk, Botanicula, hält der tschechische Entwickler auch weiter treu den eigenen Kurs.

Botanicula beginnt gleich mit einer Katastrophe: ein Parasit befällt einen Baum und entsaugt ihm die Lebenskraft! Das klingt für uns Menschen in der Regel nicht so spektakulär, aber Bäume sind das Zuhause von vielen, vielen Lebensformen. Eine davon ist Mr. Lantern, der nichtsahnend eines Tages einen Ast entlangwanderte, als er plötzlich von einem herabfallenden Lichtsamen ausgeknockt wird. Diese Samen befinden sich normalerweise an der Spitze des Heimatbaums, doch abgesehen von diesem, der gerade noch so den Fängen des Parasiten entkommen konnte, wurden alle anderen bereits aufgefressen. Mr. Lantern träumt daraufhin von seiner Bestimmung: Der Lichtsamen muss eingepflanzt werden, damit die Bewohner des sterbenden Baumes einen neuen Platz zum Leben finden können. Aber für eine kleine Eichel allein ist diese Aufgabe zu schwierig, also ruft er seine Freunde, Mrs. Mushroom, Mr. Twig, Mr. Poppy Head und Mr. Feather herbei, um zusammen eine Zuflucht vor dem grausigen, schwarzen Monster zu finden.

Die gruseligen Parasiten entsaugen unserer Heimat die Lebenskraft!

Was folgt, ist ein Abenteuer, das genauso absurd wie sympathisch ist. Schon bei den eben genannten Spielen haben die fleißigen (und eventuell ein bisschen wahnsinnigen) Art-Designer von Amanita virtuelle Kunstwerke geschaffen, doch nun, mit diesem hyperorganischen Setting, konnten sie sich voll und ganz austoben. Das Ergebnis ist eine lebende, atmende Welt voller putziger und abgefahrener Kreaturen. Der Stolz auf all diese ganzen kleinen Dinger, die hin- und herwuseln und gefunden werden wollen, hat wahrscheinlich auch zur Nebenaufgabe für den Spieler geführt, sie alle in einer Art Pokédex zu sammeln. Gotta catch 'em all, baby!

Aber auf diese Weise wird nicht nur dem Sammeltrieb gehuldigt, sondern auch eine Art Belohnungssystem eingeführt, denn jedes Rätsel, das man durch willkürliches oder systematisches Herumklicken löst, gibt einem eine ganze Tonne Anreiz, um weiterzumachen und gleich die nächste Aufgabe zu meistern: Etwa wenn LSD-Pilze einfach mal so unsere Protagonisten halluzinieren lassen und plötzlich ein zweiter Mauszeiger erscheint, der ihnen irgendwelche sinnlosen Befehle gibt, oder wenn eine fette Schnake, der man ihre Federflügel zurückgibt, ganz ausgelassen im Hintergrund Loopings fliegt und die Musik in eine jauchzende Feel-Good-Stimmung umschlägt. Juchu!

Gewissermaßen ist es beachtlich, wie begnadet Amanita sämtliche Ebenen des Spiels mit einem einzigen Thema durchdringt: dem Leben höchstpersönlich. Erst einmal lebt die ganze Welt: Es gibt zum Beispiel keinen einzigen sterilen Bildschirm. Irgendwo bewegt sich immer etwas und wenn es nur die Härchen oder Blätter an einem Ast sind, die auf den Mauszeiger reagieren und sich entweder wiegen oder ihn berühren wollen, während kleine Kreaturen vor dem sich nähernden Klick kuschen. Dazu gehört die lebende Geräuschkulisse, die nur so von organischen Tönen durchzogen ist und sich nahtlos an den eigentlich autonomen Soundtrack anschmiegt. Ich weiß auch nicht, ob es nun an Sparmaßnahmen lag oder an einer künstlerischen Entscheidung, aber immer wieder kann man heraushören, dass die Sounds großteilig gesprochen wurden. Ob nun ein gehüpftes "Wuppwupp!" oder eine verwehendes "Wuuuuusch!", die Leute von Amanita hatten den Mut dazu, ein bisschen gesunde Albernheit einzustreuen. Sehr schade ist nur, dass manchmal die Programmierung nicht ganz gelungen zu sein scheint, denn bei schnellen Wechseln kann es sein, dass man ein nerviges Knacken vernimmt.

Dieses Spiel ist so photogen, dass es einer schreienden Ungerechtigkeit gleicht, sich auf dermaßen wenige Screenshots beschränken zu müssen.

Den Soundtrack gibt es hier zum Reinhören und Kaufen.
Nun ja, und zu guter Letzt lebt natürlich gerade die Musik so dermaßen, dass man das Gefühl bekommt, die Kopfhörer würden gleich Wurzeln schlagen und durch die Ohren ins Hirn hineinwachsen. Die abwechslungsreichen Stücke erinnern an eine energetische Version von Sigur-Rós-Liedern gepaart mit den übergeschnappten Songs der infamen The-Neverhood-Komponisten. Hier kann man wegen der fließenden Übergänge zwischen BGM, SFX und den Reaktionen auf die eigenen Handlungen irgendwann wirklich nicht mehr differenzieren, was genau welchen Teil der Spielewelt ausmacht - bis man realisiert, dass eben das auch Sinn der Sache ist. Botanicula legt ein hohes Maß an Integrität an den Tag, von dem sich andere Spiele, deren Komponenten getrennt und zerstritten wirken, eine tüchtige Scheibe abschneiden können.

Puncto Gameplay wird der etwas ungewöhnliche Weg gegangen, dem Spieler viel Freiheit bei der Wahl der Reihenfolge des Lösens der Puzzle einzuräumen. Die Kapitel lassen sich grob durch Sammelaufgaben trennen, die etwa "Finde sieben Schlüssel" oder "Rette Frau Gnubbels drei Kinder" lauten. Das gibt einem die Möglichkeit, nicht sofort in einer Sackgasse zu stecken, wenn man einmal nicht weiterkommt, sondern man kann sich locker mal kurz zurückziehen und eine andere Hürde überwinden, während das Hirn hoffentlich unterbewusst an der Verarbeitung von etwas anderem arbeitet. So ist es keine Schande, wenn man vor der grässlichen Spinne, die einem den Durchgang versperrt, erst einmal flieht, um sich anderen Problemen zu widmen.
Ich hatte in der Hinsicht erst die Angst, dass die Denkaufgaben wegen der Ein-Tasten-Steuerung schnell in ein wildes Herumgeklicke degenerieren würden, aber glücklicherweise fordert gerade der spätere Spielverlauf noch genug Intelligenz, die sich nicht effektiv durch ausdauerndes Experimentieren einfach so ersetzen ließe. Trotzdem ist der Schwierigkeitsgrad doch eher mäßig gehalten, so dass man sich kaum bis gar nicht in frustrierende Situationen verrennt. Die einzige Ausnahme stellt dabei die etwas unangenehme Drag-&-Drop-Steuerung, die immer mal wieder auftaucht, um einem den Tag zu versauen. Denn obwohl ein pixelweises Absuchen des Bildschirms nie wirklich notwendig ist, musste ich etwa lange damit kämpfen, einen Wasserball von der Wand abzureißen, weil ich ihn nach einigem Mausgeziehe nur für besonders auffällige Dekoration hielt und erst viel später noch einmal versuchte, ihn von seinem Platz zu entfernen. Das hat mich eine halbe Stunde meines Lebens gekostet, grml.

Interessante Auflockerungen zur Adventure-Routine finden sich an allen Ecken und Enden.

Botanicula ist eine durchgehend intensive Erfahrung, die unumwunden versucht den Spieler ohne Drogeneinwirkungen in höhere Bewusstseinssphären zu führen. Leider meidet dieser Behemoth an Entwicklerliebe und intelligentem Design nicht die Konfrontation mit einer sehr kurzen Spielzeit. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden: Ich konnte Botanicula an einem Tag beenden. Und während es sich Dank freispielbarer Goodies und einem schnell ausgelösten Entdeckertrieb tatsächlich noch mal lohnt, einen zweiten Durchgang zum Füllen des Kreaturenverzeichnis zu starten, sind so die Möglichkeiten doch sehr schnell ausgereizt. Nichtsdestotrotz ist Botanicula ein Garant dafür, jedem Menschen ein Wochenende lang ein warmes Lächeln ins Gesicht zu zaubern - was mehr ist, als man von vielen anderen Spielen behaupten kann. Rian

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20. April 2024 um 07:08 Uhr
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Botanicula
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Sparte - Wenn es nicht bei drei auf dem Baum ist, testen wir es.

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19. April 2012
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Plattform - PC-Spiele haben mit die älteste Tradition. Heutzutage laufen die meisten Games unter dem Microsoft Windows.

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