Brauchen wir Story?

(Artikel)
Benjamin Strobel, 22. März 2012

Brauchen wir Story?

Was ein Spiel zum Spiel macht

In einem Spiel geht es ums Spielen. Wenn in einem Videospiel bunte Charaktere über den Schirm flimmern, könnte es genauso gut ein Film sein - würde man sie nicht steuern. Und für eine gute Science-Fiction-Story braucht es kein Mass Effect, wenn man auch Per Anhalter durch die Galaxis lesen kann. Wer mit einer Figur aber in die Schlacht ziehen, Aliens abballern oder Schildkröten auf den Kopf springen will, der kann das nicht mit Filmen und Büchern. Neben Bild und Ton und Text bieten Videospiele eine für in diesem Medium hervorstechende Komponente: Interaktivität.

Zu behaupten, Videospiele hätten Interaktivität als Alleinstellungsmerkmal gepachtet, wäre aber auch nicht richtig. Wer gerade auf den Mass-Effect-Link geklickt hat, ist Zeuge der mächtigen Interaktivität des Internets geworden: Ihr Leser bestimmt, was ihr euch anseht. Mit einem Klick navigiert ihr euch an Orte, die ihr ausgewählt habt - ihr werdet nicht wie bei einem Fernsehkanal mit dem Programm abgefüttert, sondern bestimmt selbst. Ein Kernmerkmal, das sich das Über-Medium Internet mit dem Videospiel teilt. Man sitzt nicht passiv da, sondern übernimmt die Kontrolle.

Das Internet als solches, also als vernetztes Informationssystem, ist zwar eine hervorragende Prokrastinationsmaschine, aber obwohl wir Stunden davor verbringen können, ist es kein Spiel. Wir haben die Kontrolle über das, was passiert... aber weiterhin: kein Spiel! Was fehlt, ist eine Bestimmung, ein Zweck - und zwar keiner in unserem täglich Leben. Der Zweck eines Spiels liegt in der fiktiven Welt des Spiels. Das lässt sich sogar am Beispiel von Schach schnell verstehen: Die Regeln des Schachspiels spannen die Welt des Schach auf. Ich könnte auch meine Pokémon und Transformer auf das Brett stellen und laut "Krieg!" rufen... aber das wäre kein Schach. Erst wenn ich die Regeln kenne und nach ihnen spiele, befinde ich mich im Schach. Der Witz eines Spiels liegt also geradezu in seiner Eingrenzung in eine eigene Welt - was das Regelwerk beim Schach stellt, ist bei Videospielen das Gameplay. Es spannt die Möglichkeiten und Regeln auf und bestimmt wie ein Spiel funktioniert. Zwar kann ich mir Call of Duty kaufen und dann als Pazifist durch die Maps rennen und die Leute nach Tee fragen (obwohl das keinesfalls der Sinn des Spiels ist), aber ich kann es nur im Rahmen der Spielmöglichkeiten. Eine Decke aufschlagen und Tee ausschenken haben die Entwickler einfach nicht eingebaut. Es ist nicht Teil der Spielwelt, oder anders gesagt: gegen die Regeln, die das Gameplay aufspannt. Ich kann es nicht tun!

Mit den beiden Elementen Kontrolle und Regelwerk (= Gameplay) können wir ein vollwertiges Spiel konstruieren. Zwar könnte man sich ein Spiel allein durch die Regeln schon vorstellen, aber spielbar wird es erst durch den Einfluss des Spielers. Wir brauchen für das Ganze nicht mal ein Ziel! Nicht alles ist Wettbewerb! Nicht alles geht nach Punkten und Bestzeiten. Stellt euch nur ein Sandbox-Spiel wie Minecraft vor. Es besitzt zwar feststehende Gameplaykomponenten, aber trotzdem keinen festgelegten Spielzweck oder Highscore. Nur Regeln und Spielerkontrolle.

Also frage ich jetzt: brauchen Spiele eine Story? Eine Geschichte ist ganz offenbar kein Spezifikum und nicht einmal Voraussetzung, um ein Spiel zum Spiel zu machen. Wer würde bei Skat nach einer Story fragen? Offenkundig ist die Idee allein schon blöd. Und dennoch sind Videospiele voll mit Geschichten. Einige erschaffen ganze Universen! Wie es Tolkien oder Lovecraft nicht hätten besser machen können. Um sich klarzumachen, warum Geschichten eine so große Rolle spielen, muss man sich klarmachen, was Videospiele von klassischen, analogen Spielen unterscheidet: die Medialität. Stellt man sich draußen auf den Fußballplatz, dann ist das Geschehen auf dem Rasen völlig unmittelbar, also nicht durch ein Medium vermittelt. Sehen wir dagegen ein vermitteltes Spiel, verstehen wir es sofort als außerhalb unserer realen Welt - also als Fiktion. Plötzlich ist Raum für Fragen nach Geschichten und Hintergründen. Die Macht eines Mediums bestand schon immer in seinen immersiven Fähigkeiten. In einem guten Buch versinkt man regelrecht und wenn man liest, vergisst man völlig, dass das momentane Erleben nur vermittelt wird (durch das Buch) und gar nicht wirklich passiert. Auch wenn man im Kino einen Film sieht gibt es diese Momente, die einfach verschwinden. Minuten, die wie Sekunden werden, Stunden, die wie Momente sind. Tiefes Versinken im Medium - in den allermeisten Fällen ein Versinken in die Erzählung. Man kann also auch die Gegenfrage stellen: Warum sollten Spiele, wenn sie die Möglichkeit haben, nicht auch davon Gebrauch machen? Berechtigt! Aber noch nicht vollends überzeugend.

Stattdessen gibt es einen noch viel spannenderen Grund, warum Geschichten interessant für Spiele sind. Es gibt eine Sache, die wir kurz vergessen haben: Kontrolle. Wir können uns für I Am Legend solange wir wollen ein besseres Ende wünschen, aber Kraft unserer Gedanken können wir den Fernseher einfach nicht dazu bringen, etwas abzuspielen, das Sinn macht. Weil Filme und Bücher linear sind. Es gibt einige Versuche, diese Rigidität aufzubrechen. Eine der bekanntesten nichtlinearen Ansätze in der Literatur sind die Game Books aus den 1980er Jahren. Man liest einen gewissen Teil, bis man an eine Stelle gelangt, an der man sich für verschiedene Handlungen entscheiden kann, für die man anschließend an unterschiedlichen Stellen weiterliest. Fantasy-Dungeoncrawler zum lesen. Nicht gerade Hochliteratur. Das Konzept trug aber nur ärmliche Erfolge nach Hause und findet sich heute höchstens in Nischen wieder. Stattdessen lebten die Text Adventures auf dem PC auf und leben bis heute fort. Videospiele profitieren hier durch die technische Überlegenheit ihres Mediums. Herumblättern ist einfach viel anstrengender als klicken und außerdem kann man viel zu leicht gespoilert werden oder schummeln. Die Illusion wird so zerstört, weil der Leser immer wieder aus seiner Immersion ins Hier und Jetzt zum Blättern gerissen wird. Spiele dagegen lassen ihre Entscheidungszweige im Hintergrund fast unbemerkt ablaufen und geben dem Spieler eine nahtlose Erfahrung zurück.

Man kann am Ende wohl nicht sagen, dass eine Geschichte nötig für ein Spiel ist. Und trotzdem sieht man eine interessante Beziehung der beiden zueinander. Eine Story fügt Spielen etwas hinzu und gleichzeitig fügen Spiele einer Geschichte etwas hinzu. Die Spielerkontrolle lässt die Geschehnisse stärker zu einer Ich-Erfahrung werden. Man fühlt sich verantwortlich für den Fortgang der Geschichte. Und zuletzt kann die Interaktivität sogar dazu genutzt werden, eine nichtlineare, interaktive Story zu konzipieren wie wir sie aus guten Rollenspielen wie Dragon Age oder dem Witcher kennen. Videospiele ermöglichen einer Story mehr als jedes andere Medium es könnte und ist daher eine ganz besondere Plattform für Geschichten. Geschichten haben auf diese Weise ein neues Kapitel in ihrem Dasein aufgeschlagen - eines, das mit Sicherheit noch nicht zu Ende erzählt wurde. Nex

Kommentare

Rian
22. März 2012 um 23:34 Uhr (#1)
Es ist schon komisch, dass sich überhaupt die Frage der Story stellt und darüber debattiert wird - bei allen anderen Unterhaltungsmedien würde man nur komisch angeguckt werden. Dass aber hinterfragt wird, ob überhaupt eine Geschichte für Videospiele benötigt wird, liegt einerseits an der Verbindung zum Vater der Videospiele, den Brett- und Kartenspielen (wovon, meiner Meinung nach, die Videospiele ohnehin schon im Regelfall so viel Abstand genommen haben, dass ein Bezug nicht mehr legitim ist), andererseits ist gerade hier der wichtigste Teil einer Geschichte, der Protagonist oder die Protagonisten, nicht vollständig greifbar. Einerseits ist der Hauptcharakter etwa eindeutig John Shepard, Solid Snake oder Lara Croft, andererseits sitzt der Protagonist allerdings auch in der realen Welt und hat einen Controller in der Hand.

Ich habe einmal das Argument eines Entwicklers gelesen, dass es in Videospielen keine Story gibt. Man übernimmt lediglich die Kontrolle von jemandem und es passieren Dinge um einen herum. Ich muss zugeben, dass ich nun nicht verstanden habe, warum das Story ausschließen soll, vor allem weil so ziemlich jede Geschichte seit Anbeginn der Zeit sich auf "Das Quest" zurückführen lassen - der Protagonist der Geschichte möchte etwas bewusst oder unbewusst und um sein Ziel zu erreichen, benötigt er etwas. Am Ende der Geschichte erreicht er sein Ziel oder auch nicht. Was dieses "etwas" ist, kann so offensichtlich sein wie die Dragonballs in Dragonball oder etwas subtiler wie die Anerkennung von Tyler Durden in Fight Club.
Videospiele bekommen die schwierige Aufgabe, den Quest des Spielers mit dem des Hauptcharakters zu vermischen. Geschichten passieren überall und jeden Tag und wenn wir ein Spiel starten, dann suchen wir bereits nach ganz einfachen Geschichten. Erinnern wir uns an Snake in Handyform: Wir spielen drei Pixel, die sich verlängern, wenn wir auf freistehende Pixel zusteuern. Offensichtlich frisst unsere "Schlange" diese Objekte, um zu wachsen. Motivation ist klar! Schlange will fressen, ich will Punkte. Gemeinsames Ziel, los geht's! Hier ist das Vermischen sehr einfach, da fast alles vom Spieler selbst kommt.
Sollte das Spiel aber an einen Punkt gelangen, wo die gelieferte Story nicht mehr hält, dann fangen wir an desinteressiert zu sein. Das passiert, wenn Spiele komplexer werden und sich in die Länge ziehen. Snake ist ja schön und gut, aber so eine Runde hält nur ein paar Minuten und dann beginnt die Geschichte wieder von vorne. Da passiert was in unserem Kopf und wir akzeptieren, dass ein Reset vorliegt.

Nehmen wir uns jetzt mal modernere Spiele zur Brust. Was fällt als erstes im Vergleich zum Automaten weg? Klar, die Punkte. Ohne Punkte kein Spielziel. In der Hinsicht war aber gerade das erste Mario ziemlich genial, welches über keine lange Einleitung verfügte, sondern den Spieler durch ein paar Gameplaykniffe dazu zwang, sich in die Geschichte um Mario zu involvieren. Das kleine Männchen startet links. Rechts ist gähnende Leere. Da will ich hin. Da tauchen plötzlich Monster auf, die uns etwas böses wollen. Die müssen weg! Und bevor man anfängt, den Sinn seiner Handlungen zu hinterfragen, erreicht man schon das erste Levelende, zieht die Flagge ein und verschwindet in der Burg. Man hat etwas geschafft! Aber was? Man möchte wissen, wie es weitergeht. Am Ende der ersten Welt findet man dann einen fiesen Bossgegner vor. Die Musik hat sich geändert, der Typ läuft nicht wie gewohnt von rechts. Was ist hier los? Besiegt man ihn, bekommt man gesagt, dass die Prinzessin in einem anderen Schloss ist. Bwuh? Prinzessin? Los geht's! Erst dort greift der Story-Hook. Wir sind ja jetzt eh schon mittendrin, diese Welt zu erkunden, da können wir auch gleich auf dem Weg noch die Prinzessin einsacken. Mario bekommt an dieser Stelle eine eigene Persönlichkeit und trennt sich somit vom Spieler, die zwei werden aber sofort wieder zusammengeführt, da sich ihre Wünsche überdecken.

Dieses "ziehende Gameplay" ist in großen Titeln so ziemlich ausgestorben und wurde durch Exposition ersetzt. Dem Spieler wird ein Grund für sein Handeln sofort gegeben und mangels Punkten oder Anspornen, wie etwa das überstehen einzelner Missionen oder das Besiegen eines Feindes in einem Strategiespiel, sind stark storylastige Spiele davon abhängig, die Motivation des Spielers (welche ansonsten bei Spielen prävalent aus "Spiele das Spiel durch" besteht) mit der des instantan disparitären Protagonisten zu konvergieren.

So, die spannende Frage ist jetzt aber eigentlich: Was haben wir davon? Wozu nehmen wir Spiele, dieses pure Vergnügen am Knobeln, Denken und Geschlichkeitsbeweisen, und tackern da etwas so Befremdliches wie eine Geschichte dran? Nun, in erster Linie natürlich, weil man es kann und weil Leute Geschichten gerne fressen.
Das eigentlich Resultat ist aber die Frage, was man für eine Geschichte in einem Videospiel tun kann, wo andere Medien wie Film oder Literatur versagen. Auf der Hand liegen Antworten wie die Kontrolle über den Spielverlauf und tieferes Einleben in die Welt der Charaktere. Das benötigt keine weitere Erläuterung, denke ich. Ich finde allerdings diese Antworten als gesprochenes "Es sind viele Geschichten in einer!" und "Es ist wie ein Film, nur dass man den Protagonisten steuern kann!" ein wenig langweilig. Das würde bedeuten, dass Spiele entweder eine komprimierte Buchsammlung darstellen oder dass das Spiel als "Reinform" durch eine Geschichte erweitert und verunreinigt wird - oder umgekehrt. Wenn man sich Visual Novels für den ersteren Fall und Uncharted für den letzteren ansieht, dann mag das in einigen oder sogar mehreren Fällen stimmen, aber ich denke, dass noch viel mehr dahintersteckt. Videospiele sind ein Medium für Geschichten, oder kürzer: Videospiele SIND Geschichten. Selbst Videospiele, die noch so sehr versuchen wie Filme zu sein und dadurch, meiner Meinung nach zumindest, sämtlichen Respekt vor sich selbst verlieren, erzählen durch die Möglichkeiten, die dem Spieler gegeben sind, in der Regel mehr als es dem eindimensionalen Zeitverlauf von Literatur, Comics, Musik oder Filmen möglich ist. Der Entwickler des Spiels hat die Aufgabe, uns durch Spielregeln einzuschränken und das so gut, dass wir die Einschränkungen entweder als gegeben betrachten oder überhaupt nicht bemerken. Innerhalb dieses kleinen Raumes sind wir aber frei. Wir können mit Drake das Museum in seiner Kindheit so lange besuchen wie wir wollen. Wir haben die Wahl, auf welche Weise wir in The Legend of Zelda Feinde besiegen oder sie umgehen. In welcher Frequenz wir in Rollenspielen Texte lesen oder sie überspringen bringt uns ebenfalls mehr ins Spiel - es wird zu einer Eigenschaft des Protagonisten, dass er vielleicht genauso ungeduldig ist wie wir und lieber Kram schaffen möchte anstatt sich das Gelaber von irgendwelchen Leuten anzuhören. Nicht zuletzt geht unser Skill natürlich auch direkt in die Spielerfahrung mit ein. Müssen wir lange und hart kämpfen oder schütteln wir den Sieg locker aus dem Ärmel? All diese Eventualitäten muss ein Entwickler abschätzen. Manchen wird das zu viel und sie nehmen den Spielern Gameplay weg, damit sie in Ruhe "ihre Geschichte" erzählen können. Das ist falsch. Solche Leute sollten Bücher schreiben.

Ich habe nun viel gelabert. Der Punkt für mich ist: Das Gameplay eines Spiels ist der entscheidende Träger einer Geschichte. Man selbst ist der Protagonist und es fließt viel Schweiß guter Spieleentwickler in die Mühe, die Geschichte eines Spiels und den Protagonisten so zu gestalten, dass sich der Spieler dort wohlfühlt. Wenn es doch einmal dazu kommt, dass das Spiel die Kontrolle über unseren Helden übernimmt, dann muss die Atmosphäre bis zu dem Zeitpunkt so gelenkt sein, dass der Spieler dieselben Worte denkt, die der Protagonist ausspricht. Geschichten in Videospielen werden schlecht, wenn der Spieler seine eigene Figur nicht mehr versteht. Was bedeutet, dass viele Anteile der Geschichte von Videospielen im Kopf des Spielers entweder erzeugt werden oder dort härter eingepflanzt werden müssen als in jedem anderen Medium. Durch das Aufeinanderprallen dieser instabilen internen und der externen Geschichten bildet sich aber letztendlich das Potential zu einer emotionalen Involvierung, die nirgendwo sonst erreicht werden kann.
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