Life is Strange im Test

(Artikel)
Benjamin Strobel, 03. Februar 2015

Life is Strange im Test

Das Mädchen, das durch die Zeit sprang

Arcadia Bay, Oregon. Die Nachmittagssonne hüllt die Blackwell Academy in ein warmes Orange. Max studiert hier Photographie. Nach außen ist sie ein unauffälliges Mädchen, die Innenwelt des Teenagers überschlägt sich dagegen mit Eindrücken. Soweit normal. Doch ihr Leben wird ziemlich schräg, als sie bemerkt, dass sie die Zeit zurück drehen kann. Life is Strange ist ein episodisches Adventure mit dichter Atmosphäre und einem Hauch Mystery.

Nach fünf Jahren Abwesenheit ist Max in ihren Heimatort zurückgekehrt. Wie es der Zufall will, trifft sie schnell auf ihre alte Freundin Chloe, doch das Wiedersehen ist... kompliziert. Max hat sich in all der Zeit nicht ein einziges Mal gemeldet - das lässt sich nicht rückgängig machen und nicht schön reden. Chloe durchlebte mit dem Tod ihres Vaters eine schwere Zeit und fand Trost in ihrer neuen Freundin Rachel. Doch so unverhofft, wie Max zurückgekehrt war, so überraschend ist Rachel kürzlich verschwunden.

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Der Was-wäre-wenn-Palast
Die Stimmung ist melancholisch. Der Spieler steuert Max durch detaillierte Umgebungen, die in Aquarellfarben wie gemalt aussehen, und kommt mit allerhand Figuren ins Gespräch. Auf den ersten Blick erinnert Life is Strange sehr an Titel aus dem Hause Telltale Games (The Walking Dead, The Wolf Among Us). In Dialogen hat man stets die Wahl, mit welcher Antwort man reagiert und manchmal ist keine Antwort die Richtige. Obwohl das Prinzip sich eng an Telltale-Spiele anlehnt, kommt es hier ganz anders zur Geltung. Entscheidungen müssen nicht unter Zeitdruck getroffen werden und wenn man trotzdem mal unzufrieden ist, lässt sich die Zeit einfach zurückspulen. Man sieht, wie die Dinge sich entwickeln, wenn man anders gehandelt hätte und kann den Fortgang der Geschehnisse beeinflussen, wie es einem gefällt. Das nimmt Entscheidungen im ersten Moment ihr Gewicht. Es gibt keine Spontanität mehr und keinen impulsiven Fehltritt. Stattdessen wird man zum Pläneschmieder. Wie Bill Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier manipuliert man jeden Dialog bis zum perfekten Ergebnis.

Was auf Gameplay-Ebene als witziges Gimmick funktioniert, verleiht der Erzählung eine Ruhe und Langsamkeit, die perfekt zur Atmosphäre passt. So manches Mal scheint keine Entscheidung die Lösung zu bieten, egal wie oft man eine Situation durchspielt. Stattdessen ist alles ein Gedankenspiel, in dem man jeden Winkel im Was-wäre-wenn-Palast erkundet. Schließlich macht man aus einer Möglichkeit eine Realität, denn nur die letzten Handlungen kann man rückgängig machen. Irgendwann ist das Schicksal festgeschrieben und ein Schmetterling am Bildschirmrand zeigt an, dass diese Handlung noch Folgen haben wird.
Die Metapher des Butterfly Effects legt nahe, dass selbst kleine Handlungen eine große Wirkung entfachen können. So kann man sich trotz mühevoller Entscheidungsfindung niemals sicher sein, was am Ende dabei heraus kommt. Wie die Auswirkungen tatsächlich aussehen, lässt sich in der ersten Episode noch nicht beurteilen.

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Spurenlesen
Die Macht, Zeit zu beeinflussen, verspricht nicht nur jede Menge Spaß, sondern auch interessante Gameplay-Kniffe. Hier hält sich die erste Episode stark zurück und verlangt das Lösen von nur wenigen Rätseln außerhalb der Dialoge. Dabei muss man die Umgebung gut studieren und bestimmte Aktionen in der richtigen Reihenfolge ausführen. Manchmal muss man auch nur darauf achten, Patzer wieder rückgängig zu machen, beispielsweise wenn man etwas umwirft oder sich etwas daneben benommen hat. Da man die Umgebung fröhlich erkundet, wird man so manches Mal beim Schnüffeln erwischt und kann diesen peinlichen Moment dann ungeschehen machen.

Schnüffeln ist ein großes Thema. In meinen Händen wurde Max zum neugierigsten kleinen Gör südlich des Äquators. Ich habe das Schlafzimmer von Chloes Mutter durchforstet, Laptops ausspioniert und fremde Zimmer durchwühlt. Ich habe jedes Blatt vom Boden gesammelt, jeden Flyer gelesen und Fotos an Wänden genau studiert. Das Ausmaß der Interaktivität ist extrem hoch und man kann in den meisten Arealen eine gute Stunde verbringen, indem man sich aufmerksam alles ansieht. Die Art und Weise, mit der man sich als Spieler aktiv Informationen suchen kann, um sich nach und nach eine Geschichte zusammenzupuzzlen, erinnert stark an Gone Home. Hier wie dort entfaltet sich eine interaktive Erzählung je nach Neugier des Spielers. Auf geschickte Weise streut das Spiel Hintergründe ein und bringt die Erzählung indirekt voran. Schon bevor man von Chloe mehr über Rachel erfährt, kann man Flyer über ihre Vermisstmeldung erspähen und von anderen Studenten etwas über sie erfahren. Viele Figuren erlebt man durch Bilder, Aufzeichnungen und andere Spuren, die sie in der Welt hinterlassen haben. Als Spurenleser saugt man jeden Hinweis in sich auf, um eine Verbindung zu den Figuren herzustellen. Manchmal gewinnt man intime Einblicke in die Gedankenwelt der anderen Charaktere, während Max gleichzeitig ihre Persönlichkeit in ihren Kommentaren entfaltet.

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Der Indiefilm - Das Spiel
Mit dem skurrilen Witz eines Garden State und der mystischen Melancholie von Donnie Darko ist Life is Strange eigentlich ein Indie-Film - nur verpackt als Spiel. Im Vordergrund stehen die Figuren mit ihren Alltagsproblemen, einige etwas skurril, ein paar beinahe gruselig. Im Hintergrund zählt eine Mystery-Geschichte den Countdown an und lässt erahnen, dass im Ungewissen etwas lauert. Life is Strange ist gleichzeitig leichtfüßig und spannend, plätschert an der Oberfläche, aber kündigt an, noch tief zu schürfen. In der ersten Episode schafft das Spiel einen zirkustauglichen Balanceakt zwischen charmantem Coming-of-Age-Drama und vielversprechendem Mystery-Auftakt. Der Soundtrack ist ein straff geschnürtes Paket aus Singer-Songwriter-Stücken, die intensiv die Atmosphäre transportieren. Das Voice-Acting ist durch die Bank großartig, allerdings ist die Sprachausgabe überhaupt nicht lippensynchron. Manchmal wirken die Figuren dadurch etwas blechern und die Illusion wird kurz gestört. Ich hoffe sehr, dass hier noch nachgebessert wird, doch insgesamt macht dieser Fehltritt das Spiel nicht kaputt.

Besonderes Lob verdient Entwicklerstudio Dontnod für die starken weiblichen Hauptfiguren. Die wichtigsten Charaktere, Max und Chloe, sind junge Frauen. Dabei folgen sie keinesfalls dem Spieleklischee der Jungfrau in Nöten, sondern bestimmen ihr Leben und den Spielverlauf. Max ist schmächtig und unscheinbar, ihre Weiblichkeit bleibt unbetont. Chloe ist schrill und ausgeflippt. Mit Rachel - eine lesbische Beziehung wird vage angedeutet - wollte sie die Stadt verlassen und ein neues Leben anfangen. Das Spiel besteht sofort den Bechdel-Test: die beiden Frauen sprechen über alles Mögliche, aber nicht über Männer. Stattdessen geht es um eine verschwundene Freundin und das Rätsel um Max' neue Fähigkeiten. Natürlich wird in Episode eins noch nichts davon geklärt.

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Alle sechs Wochen soll es eine neue Episode geben. Ich hoffe, dass wir die vier ausstehenden Folgen pünktlich erhalten und sie in jedem Moment so gut sind wie der Auftakt mit der ersten Episode. Life is Strange ist eine interaktive Erkundungstour durch Arcadia Bay und seine Figuren. Es macht das Was-Wäre-Wenn-Spiel des Zeitzurückdrehens greifbar ohne dabei langweilig zu sein. Ich freue mich auf die ungeahnten Konsequenzen meines minutiös geplanten Handelns und kann es kaum abwarten, weiter in die Figuren einzutauchen. Life is Strange ist das uneheliche Kind von Telltale Games mit Gone Home und bringt das Indiefilm-Erlebnis auf eine interaktive Stufe. Ben

Life is Strange wurde auf der Xbox One getestet. Ein Testmuster wurde uns von Square-Enix zur Verfügung gestellt. Dieses Spiel erscheint episodisch. Eine abschließende Wertung vergeben wir erst nach der letzten Episode.

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30. Januar 2015
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