The Last Tinker: City of Colors

(Artikel)
Paul Rubah, 12. Mai 2014

The Last Tinker: City of Colors

Rückkehr in eine bessere Zeit

Ich will euch nicht belügen: Für The Last Tinker: City of Colors konnte ich die riesigen Nostalgie-Brillengläser nicht ablegen. Wie auch? Die Blütezeit meiner Gamerjugend lag mitten im 3D-Plattformer-Rausch: Von Gex, Mario 64 und Conker's Bad Fur Day über Crash Bandicoot, Sly und Sonic Adventure bis Beyond Good & Evil und Psychonauts. Nach den letzten beiden Knallern sah es düster aus: Gut gemeinter Schrott, wie Alter Echo, Voodoo Vince, Kameo oder Sonic Heroes verhießen Übles. Neben wackeren Serien, wie Jak & Dexter, Chibi Robo oder Mario, die immer mal wieder einen Glanz vergangener Zeiten durchscheinen ließen, gab es für Liebhaber dieser Art Spiel nicht viel Lohnenswertes zu entdecken. Das Genre ging drei Wege: Ein Teil verwandelte sich in erwachsenere Open-World-Entdeckungswut, wie die Batman-Arkham-Serie, ein anderer wurde von Hack-'n'-Slays absorbiert und der letzte machte sein Comeback als 2D-Plattformer. Doch nun dreht The Last Tinker: City of Colors das verglühende Licht noch einmal zur Stichflamme auf und zelebriert mit uns das Jump 'n' Run der vorletzten Generation.

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Die Screenshots sind zwar alle auf englisch, aber die Tinkerweltler können auch deutsch.
Inspiration ist so eine Sache bei Videospielen: Mal spielt man ein Spiel und man kann raten, welche Titel die Entwickler toll fanden und mit geschicktem Diebstahl honorierten. Meistens kommt man auf ein oder zwei Spiele. Für The Last Tinker konnte ich bereits ein gutes Dutzend identifizieren und das war wahrscheinlich noch nicht mal die Hälfte der Wahrheit.
Offensichtlich sind die Pastellfarben von alten Rare-Titeln, aber auch die Hullabaluh-Sprache der Einwohner von Tinkerworld erinnert an Banjoo-Kazooie und Co. Die manische Kistenzerdepperei von Crash Bandicoot ist vorhanden, der Sammelwahn von Jak & Dexter und Rayman 2 und Hoodlum Havoc, das Charakterdesign von Beyond Good & Evil, das Weltheilungskonzept von Prince of Persia (2008), das Befreien versteinerter Charaktere von Spyro, das Rail-Surfen von Sonic Adventure, das Free Running von Assassin's Creed, die Abstraktheit von Psychonauts und das Kampfsystem der Batman-Arkham-Serie. Vielleicht ist an einigen Stellen meine Vorstellungskraft etwas mit mir durchgegangen - wenn ich irgendjemanden von Mimimi Productions erwische, lasse ich mir die Liste bestätigen.

Die Stadt der Farben
Die City of Colors liegt im Argen, und das nicht erst seit gestern: Die Angehörigen der drei Farben Blau, Rot und Grün haben sich auseinandergelebt. An das einstige Konzept einer vielfarbigen Stadt glaubt keiner mehr so recht - die aggressiven Roten schikanieren die ängstlichen Grünen und die traurigen, dickköpfigen Blauen ziehen sich deprimiert in sich selbst zurück. In der Mitte stecken die Outers: Farbunzugehörige, auf die jeder andere herabsieht. Zu den Outers gehört auch Koru, ein Affenjunge. Koru bekommt eines Abends Besuch von einem violetten Geist, der ihm hilft, seinen schwer verletzten Freund Tap zu heilen. Aus Dankbarkeit will Koru dem Geist bei einer noblen Mission helfen: die kaputte Welt, in der er lebt, zu korrigieren. Was kann da schon schief gehen?

So ziemlich alles. Die Bleiche, oder Bleakness, wird freigesetzt und verschlingt alle Farben, die sie berührt. Ohne Farben kein Leben in der Welt aus Pastell und Pappmaché. Das hat etwas von Die Unendliche Geschichte. Glücklicherweise entpuppt sich Koru als ein Tinker, der alle Farben verwenden kann, um seine Umgebung zu manipulieren. Oder um den monströsen Bleakies ordentlich die Fresse zu polieren.

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Was wie eine simple Geschichte erscheint, hat bereits zu Beginn ein paar ungewöhnliche Beigeschmäcker: Lieb erscheinende Charaktere entpuppen sich als Verräter, knuffige Sidekicks sind nicht durch die Kraft der Comedy vor schweren internen Verletzungen gefeit und viele Bewohner des kunterbunten Market Districts, den man bald nach Spielbeginn aufsucht, haben stark unterschiedliche Meinungen zur politischen Situation, zur wirtschaftlichen Lage der Farbherstellung und des Exports oder zu Koru selbst. Wie soll man da bloß das typische Schwarz-Weiß-Denken genießen, wenn man in dieser... in dieser bunten Welt... Oooooh.

Schoki für die Augen
Wo wir schon bei bunt sind, denn man kann sich nicht über The Last Tinker unterhalten, wenn man nicht einmal die Grafik angerissen hat: Die Tinkerworld und deren Figuren sind verdammt hübsch. Zwar fehlte es der Entwicklung offensichtlich am Budget für eine Legion von Crytek abgeworbener High-Def-Gurus, doch das, was Mimimi mit Formen und Details in wenigen Polygonen hinbekommen hat, ist schon augenöffnend: Kein Ort sieht aus wie der andere. Nahezu jede Bodenkachel scheint ein Unikat zu sein, ebenso wie die Charaktere. Klar, es gibt viele rote Echsen, grüne Schildkrötenhasen oder blaue Bären. Die sehen sich ähnlich. Ähnlich. Aber keiner ist gleich. Jeder ist anders. Das findet ihr nirgendwo sonst. Naja, außer vielleicht in Shenmue.

Zurück zu den Wurzeln
Nichts ist so klassisch an The Last Tinker wie der Spielablauf: Kapitelweise latscht Koru durch die Tinkerwelt, zerkloppt Kisten, sammelt Kram, springt von hier nach da, löst Schalterrätsel und verprügelt diesen oder jenen Bleakie. Insbesondere die Rätsel haben es mir hier angetan: In Begleitung eines etwas einfältigen Pilzmannes löst man teils einfache, teils doch recht knifflige Kopfnüsse. Nichts allzu Forderndes insgesamt, aber selbst meiner einer, der meint, jedes Genre-Rätsel schon mindestens zweimal gelöst zu haben, musste an einigen Stellen stehen bleiben und überlegen.
Und jedes Mal, wenn man denkt, dass das Spiel so in den nächsten fünf bis zehn Minuten langsam anfangen könnte langweilig zu werden, trumpft es mit einer neuen Kuriosität auf: Hier ist eine schnelle Actionsequenz auf Schienen! Oder hier, ein musikgesteuerter Level! Wie wäre es mit einem Detektivfall, samt Blues-Saxophon als Begleitung? Oder einer ausgefeilten Kletterpassage, die mit einem tollen Ausblick belohnt wird? Das Pacing lässt das Spiel nicht dröge werden, so dass man die rund acht Stunden Spielzeit durchaus am Stück runterzocken kann. Nicht, dass ich das getan hätte. Aber unter uns: Ich habe es getan.

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Die schönsten Päuschen zwischendurch waren für mich ohne Frage die Stadtbesuche. Jeder Distrikt verfügt einen eigenen Sammelplatz, wo man den Gesprächen der Einwohner lauschen kann, sie bei ihrem alltäglichen Handwerk beobachtet und auch mal weniger actionreicherer Aufgaben nachgehen darf. Dabei ist es einfach nur hinreißend, durch diese - mir gehen die Synonyme aus - kunterbunten Stadtteile zu wandern. Und nach ein bisschen Loot zu suchen, denn für goldene Pinsel schaltet man Artwork und spezielle Spielmodi frei. Wie, was? In-Game-Belohnungen für Gesammele? Nicht einfach nur ein billiges Achievement? Revolutionär!

Free Flow Monkey Combat
Andere Objekte, die sich Koru in die Taschen stopft, sind die Kristalle. Mit diesen kann Koru seine Fähigkeiten ausbauen, wozu auch seine drei verschiedenen Schläge gehören: Der rote macht den meisten Schaden und verärgert Gegner. Der grüne versetzt sie in Angst und Schrecken und lässt sie auch mal wie Lemminge die Klippen hinunterstürzen. Und der blaue paralysiert Feinde. Mit Depressionen. Zusätzlich gibt es noch drei Spezialmodi: zeitbegrenzte Slow-Motion, Unsterblichkeit und Extraschaden.
Und an dieser Stelle kommen wir zu dem nicht ganz so guten Teil des Spiels. Ja, "nicht ganz so guten". Selbst der Tiefpunkt von The Last Tinker ist nämlich nicht wirklich schlecht: Das Kampfsystem. Ziemlich deutlich von Arkhams Free Flow Combat abgekupfert, nimmt Koru es mit ganzen Gegnerscharen gleichzeitig auf und muss bedächtig ausweichen. Da Gegner ihre Schläge aber lange im Vorfeld deutlich durch Ausrufezeichen ankündigen, ist kein Fiesemöpp wirklich ein Problem. Die später hinzukommenden blauen und roten Schläge machen das Ganze nur noch einfacher. Für unerfahrene Spieler ist der voreingestellte Schwierigkeitsgrad ganz nett gewählt, aber alle anderen sollten gleich in den Hard-Modus wechseln.

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Ein anderer, nicht ganz gelungener Part ist Koru selbst: Der stumme Held hat, abseits seines lässigen Designs, in etwa so viel Persönlichkeit wie ein Cola-Dose. Alle anderen Charaktere übernehmen das Reden, und das tun sie auch sehr gut, von daher ist es nicht weiter tragisch. Aber da Koru auch Bildschirmzeit in den Zwischensequenzen bekommt, hätte ich mir doch etwas mehr Elan gewünscht. Außerdem sehen manche Animationen des Affen etwas steif aus. Aber auch hier hat Naughty Dog wohl nicht sein Motion-Capturing-Team hergeben wollen.

Philippo Beck Peccoz: Ich will ein Kind von dir!
Wir befinden uns kurz vor Schluss dieses Reviews, das unanständig viele Ähnlichkeiten zu einer gut bezahlten Lobeshymne aufweist. Oh, übrigens, Hymnen: Hymnen sind ja so etwas wie Musik. Apropos Musik: Die Musik von The Last Tinker ist unendlich magisch, durchdacht, unglaublich gut inszeniert und passt zu jeder Situation wie die Faust aufs Auge. Kampfmusik ist ein verwandelte Form von Levelmusik, Levelmusik verwendet, je nach Szene, Akustikgitarren, Banjos, Mundharmonikas, aber auch Elektrozeugs und ist sich auch für das eine oder andere E-Gitarrenriff nicht zu schade. Der Soundtrack ist durchgehend fabelhaft und hat sich in Rekordzeit locker zu einem meiner liebsten Plattformer-Musikarrangements hochgeschlafen.

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The Last Tinker: City of Colours ist ein wunderschönes Spiel - innen noch mehr als außen. Würde es allein um den spielerischen Aspekt gehen, oder die Ästhetik, oder die Musik, dann wäre der Titel schon prima. Was ihn darüber hinaus hebt, ist nicht nur die Verbindung aller Elemente über eine nette Story zu einem runden Erlebnis, sondern einer Sache, die heutzutage viel zu wenige gute Spiele haben: Eine sich durch alle Ebenen durchziehende Message, die Kinder wie Erwachsene zum Grübeln bringen kann. Der Konflikt der Farben mag simpel erscheinen, wird von Mimimi mit einer Vielzahl sympathischer Charaktere, lebendiger Welten und handfesten Allegorien zum echten Leben in eine subtile Erzählung verflochten, die gerade den Kleineren ohne Standpredigten veranschaulicht, dass nicht alles immer so eindeutig ist, wie es scheint. Und dass jede Münze zwei Seiten hat. Und dass etwas Schönes nur gedeiht und lange erhalten bleibt, wenn man es immerzu pflegt. The Last Tinker ist das beste Beispiel dafür.

The Last Tinker: City of Colors

(Ranking)
S
RANK
Herausragend. S-Spiele erweitern Horizonte. Sie bieten intensive Erlebnisse oder halten den Spieler noch lange am Bildschirm gefesselt. Selbst wenn man sie nicht jedem empfehlen kann, will man doch mit jedem über sie reden.

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RELEASE
12. Mai 2014
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