Wettrüsten um den Kopf

(Artikel)
Rian Voß, 25. März 2010

Wettrüsten um den Kopf

Wie Spiele dieses Jahr eine Revolution erfahren

Die Geschichte des Videospiele-Erlebens ist so kurz wie ereignisreich. Angefangen hat das Ganze mit großen Pixeln in den durch Pong eingeführten Arcade-Hallen. Aus Arcadehallen wurden Wohnzimmer, aus wenigen großen Pixeln wurden viele kleine Pixel und danach noch mehr und noch schönere Bildschirmpunkte. Es geschah der Sprung ins Reich der dritten Dimension und seitdem gibt es keine Konsolen-Generation, zu deren Beginn nicht von "Photorealismus" gesprochen wird. Wir sprechen hier vor allem von grafischen Meilensteinen, die allerdings durch die Erweiterungen der technischen Möglichkeiten auch den Pfad für ganz neue Spielekonzepte ebneten. Naja, und nebenher hat der Wii das Motion Controlling etabliert, welches nun durch Sonys PlayStation Move und Microsofts Natal parallel zu sich immer weiter entwickelnder Grafik einen festen Platz auf allen Plattformen finden soll. Dadurch wird Nintendo hoffentlich auch mehr Druck gemacht, endlich mal mehr als nur billige Partyspiele auf den Markt zu pushen. Aber darum geht es jetzt gar nicht. Denn die wahre Revolution findet zwischen den Zeilen statt.

Vergessen wir einmal das Wackeln aus dem Handgelenk und das Herumhüpfen vor der Kamera - die alberne Hampelei in der guten Stube ist zwar das moderne Bild des Casual-Spiels, aber was ich diskutieren möchte, muss sich keine harten oder weichen Label gefallen lassen. Die Technik, die Nintendo, Sony und Microsoft nämlich Ende dieses Jahres liefern werden, gibt den Spielern der Zukunft eine völlig neuen Weg, virtuelle Realität wahr zu nehmen, an die Hand und rückt mit der fast schon klammheimlichen Ankündigung des 3DS abermals ins Bewusstsein der Spielergemeinschaft: Ich rede vom Headtracking.

Erst einmal zur Erläuterung: Headtracking bedeutet, dass mit Sensorik festgestellt wird, wie sich der Kopf des Spielers in Relation zu seiner Umgebung bewegt, nicht mehr und nicht weniger. Die Informationen werden an das Spiel weitergeleitet und es kann so etwa die Spielperspektive in Echtzeit an den Blickwinkel des Spielers angepasst werden oder Gesten wie Nicken oder Kopfschütteln ließe sich interpretieren. Ein simples sowie beeindruckendes Beispiel zeigt Johnny Lee (inzwischen bei Microsofts Natal-Brigade tätig) mittels einer Wii und einer selbstgebastelten Brille (die Action beginnt bei 2:29):

Eine sehr ähnliche Techdemo zeigte Sony auf der GDC 08 mit dem Playstation Eye:

Microsoft hat in der Hinsicht zwar noch keine Fähigkeiten vorgestellt, aber Headtracking soll in den Natal-SDKs der Hersteller integriert sein und Planungen für das Implementieren dieser Funktionen in alle möglichen Spiele werden bereits enthusiastisch vorgenommen.

So, jetzt denkt ihr: "Mann, das ist ja klasse! Aber eigentlich habe ich keinen Bock, vor dem Fernseher herum zu springen, wofür brauche ich das also bei normalen Spielen?" Sowas habe ich mich zuerst auch gefragt, der Witz ist aber, dass man sich gar nicht zur Bildschirmhure machen muss, um einen vollkommenen 3D-Eindruck zu erhalten - Kleinstbewegungen reichen schon. Nehmen wir als Beispiel unseren typischen Ego-Shooter: Als Spieler guckt man üblicherweise platt auf den Bildschirm, die Kamera ist mehr oder weniger an den Lauf der Knarre getackert und das Fadenkreuz bleibt in der Mitte des Sichtfensters. Nun fügt man Headtracking in das ganze Geschehen ein. Bewegt sich der Kopf ein wenig, z.B. in die linke obere Bildschirmecke, so schaut die Spielfigur ebenfalls in die gleiche Richtung und das Fadenkreuz verflüchtigt sich in die untere rechte Ecke.
Dabei ist nun aber gar kein Wert darauf gelegt, dass die Blickrichtung über alle Maße vom üblichen Geradeaus abweicht. Beim Sitzen vor dem Bildschirm bewegt sich nämlich der Kopf schon von ganz alleine ohne dass man es selbst großartig mitbekommt (wäre ja auch nervig). Da wird von unserem Hirn bereits viel herumgefiltert. Diese Informationen könnten von guten Technologien wahrgenommen werden und durch kleine Änderungen der Perspektive - vor, zurück, seitlich, leicht anschrägen - wird bereits der 3D-Eindruck um ein Vielfaches gesteigert. Ohne bescheuerte 3D-Brille, die einem das Outfit versaut.
Ein Gegner mit einem Raketenwerfer schießt auf den Spieler. Durch die kleinen Bewegungen wirkt die heransausende Gefahr bereits um einiges tödlicher, dadurch macht sich Panik breit, der Kopf bewegt sich aufgrund der körperlichen Reaktion wesentlich extremer, was ebenfalls vom Spiel registriert wird und der 3D-Eindruck wird noch um einiges verschärft. So kann sich ein simpler Sidestep in ein wahres Fiasko des Adrenalinausstoßens verwandeln. Mal ganz zu schweigen von In-game-Cutscenes, bei denen man kurz innehält, um sich mit NPCs zu unterhalten - beim Reden mit Half-Lifes Alyx hat der Spieler die Zeit, um den Kopf zu neigen und zu bewegen und alles sieht aus nach WOAH! Vor allem Alyx.

So, und was das erneute Aufkommen des Headtracking-Faibles ausgelöst hat, war die Ankündigung von Nintendos 3DS, der Ende des Jahres bereits erscheinen und auf der diesjährigen E3 präsentiert werden soll und der, wie der Arbeitsname schon sagt, den 3D-Eindruck zum Spieler heranträgt. Wie hat man sich das vorzustellen? Ein Beispiel-WiiWare-Titel für den DSi sollte es anschaulich machen:

Nintendo wird mit dem 3DS das sogenannte Single-User-Display (welche Technologie dem Gerät zugrunde liegen wird, ist noch nicht veröffentlicht, aber das ist der wahrscheinlichste Kandidat) zwar nicht als erster erfinden, aber der Handheld wird den Effekt sicherlich am populärsten vertreiben. Dabei können exakte Kameras am 3DS möglicherweise sogar Augenbewegungen wahrnehmen und schnell umsetzen, so dass die gezeigte Kippwirkung exakt und ohne Verzögerung im Spiel umgesetzt wird.

Das Interessanteste an dieser Entwicklung ist, dass von den großen Konzernen ein Weg eingeschlagen wird, der zwar schon lange existiert, sich aber nun zum ersten Mal im Mainstream wiederfindet: Der Indie-Weg. Spiele der unabhängigen Hersteller sind dafür bekannt, rigoros mit Physik zu spielen und algorithmisch Möglichkeiten raus zu schlagen, um immer neue, bizarre Spielekonzepte hervor zu bringen - genau solche Möglichkeiten werden mit dieser Technik gegeben werden. Waggle ist zwar schön und gut, aber wie Nintendo uns halbgar zeigte, scheinen die Möglichkeiten dort doch arg begrenzt zu sein. Headtracking allerdings findet viele Einsatzmöglichkeiten, vom hochspezialisierten Titel, der Emotionen aus den Gesichtszügen des Spielers berechnet, über den Einsatz des Kopfes als Input-Gerät bis zur Erweiterung der 3D-Erfahrung, sei es unterschwellig oder fokussiert. Da ist für jeden was dabei.

Die Möglichkeiten sind unvorstellbar weitläufig und mit Releases der drei Großen auf dem Markt zu annähernd gleichen Zeitpunkten wird sich vor der Videospielerevolution dieses Jahr niemand drücken können. Rian

Kommentare

Phno
26. März 2010 um 09:54 Uhr (#1)
Head Tracking macht mir Angst D:
Aber ich finds' cool irgendwie. Und man lachte mich früher aus, als ich bei Phantasy Star Online, Smash Brothers Melee oder Resident Evil 4 immer um die Ecke gucken wollte und versuchte den Bildschirmrand reinzulegen. Hah, meine Rache wird Einzug halten.
Ben
26. März 2010 um 11:31 Uhr (#2)
Johnny Lees Headtracking fand ich ja schon immer sehr beeindruckend, zumal es offenbar mit sehr einfachen Mitteln möglich ist. DAS hätte Nintendo mit der Wii herausbringen sollen, ein solches Spielerlebnis ist wirklich völlig neu.
Gast
18. April 2024 um 21:42 Uhr
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